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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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kopfschüttelnd ab, dass er ihr auf den Rücken klopfte, was er pantomimisch, mit hochgezogenen Augenbrauen, anbot, sie kramte in ihrer Tasche nach Taschentüchern, um hinein zu husten, und holte bei dieser Gelegenheit auch gleich Füllfeder und den Block hervor, um von dem Notfall abzulenken.
    Es dauerte eine Weile, bis sie wieder normal sprechen konnte. Das Interview glich dann einem höflichen Streit, denn Tolomei gab nur die allerknappsten Antworten. Nora fühlte sich provoziert und reagierte schriller, als sie wollte. Irgendwann später machte ihr noch eine Kontaktlinse Probleme, aber sie verzichtete darauf, auf die Toilette zu gehen. Sie ahnte wohl, dass sie nicht mehr zurückgekommen wäre. In ihre Geschichte, in den Jahren danach, baute sie als Phantasie ein, wie sie unter Zurücklassung ihrer Schuhe durch ein Klofenster über die Hinterhöfe flüchtete – oh, hätte sie es bloß getan. Stattdessen versuchte sie im Tolomei’schen Sinne cool zu bleiben, beugte sich einfach vor, schnippte sich die Linse aus dem Auge in die Handfläche, schwenkte sie durch den Apfelsaft und setzte sie wieder ein.
    Er lächelte inzwischen nicht mehr ironisch, sondern nur noch freundlich, fast liebevoll, blieb inhaltlich aber kurz angebunden. Er hatte sich schon am Telefon geziert, sie überhaupt zu treffen, dabei ging es nur um eine fast historische Sache. Tolomei war Mitbegründer einer berühmten Kleinkunstbühne gewesen, die nun geschlossen wurde. Das Gebäude, in dem sich das Kabarett befand, war an einen Betreiber von Multiplex-Kinos verkauft worden, ein Anlass für die Presse, den sentimentalen Chor von der Vernichtung einheimischer Kunstformen durch amerikanische Massenkultur anzustimmen. Nora, jung, wie sie war, fand einen solchen Standpunkt automatisch spießig. Aber weil sie die kleine Bühne, die genauso alt war wie sie selbst, geliebt hatte, wollte sie über die ersten Jahre schreiben, über die Zerwürfnisse der fünf Gründungsmitglieder, die so heillos waren, dass sie teilweise vor Gericht geendet hatten. Ihre These war, dass diese extremen Spannungen für den Erfolg in den ersten Jahren mitverantwortlich waren. »Bayreuth im Kleinen«, wagte sie zu Tolomei zu sagen, als sie sich endlich etwas beruhigt hatte. Er sah damals wirklich noch verdammt gut aus, eine subtile Mischung aus Schönling und Schlitzohr.
    Sie hustete nicht mehr, sie schwitzte nicht mehr und sie sah klar, ohne Tränen.
    Er seufzte. Die Aggressionen unter diesen Männern, sagte er, schwelten weiter wie sonst nur zwischen getrennten Paaren. Jede noch so banale Aussage werde von den anderen sofort auf Infamie untersucht. Da brauche einer bloß zu sagen, es ist zwölf Uhr, schon rufe ein anderer, gelogen!, es ist erst fünf vor, und wittere eine, nur auf diesen fünf Minuten basierende Verschwörung. »Und wenn Sie das schreiben, teeren und federn sie mich.«
    Nora lachte. Ihr fiel ein, dass Tolomei mit einer bekannten Schauspielerin verheiratet gewesen war, da kamen solche Vergleiche wohl her. Am Ende, als er zahlen wollte, hatte sie sich wieder gefangen, vielleicht zu sehr. »Hier geht es nicht um Geschlecht, sondern um Rolle«, verkündete sie, »ich bin die Journalistin, Sie schenken mir Ihre Zeit. Das ist der Zeitung einen Whisky wert.« Aber da zerfiel ihm sein kontrolliertes Gesicht in ein wildes Lachen, wie ein Krampf. Es dauerte nur einen Moment. »Sie sind wirklich …«, begann er, doch dann stand er auf, reichte ihr vorsichtig die Hand – warum, verstand sie erst kurz darauf –, verbeugte sich knapp und war verschwunden.
    Nora wollte gerade mit sich zufrieden sein, da sie es am Ende doch noch irgendwie hingebracht hatte. Plötzlich stand der Kellner, den sie flüchtig kannte, neben ihr, beugte sich herunter und murmelte: »Du solltest jetzt wirklich schnell …« Mit dem Ellbogen deutete er in Richtung Toilette. Nora stand auf, wie in Trance. Vor dem Spiegel erkannte sie sich kaum wieder. Sie sah aus wie ein Clown. Rund um das rechte Auge war die Wimperntusche schwarzgrau verlaufen, der Rest des Gesichts war mit Tinte verschmiert. Ihre Füllfeder hatte geleckt, sie hatte es nicht bemerkt, und sie fuhr sich wahrlich oft genug durch Gesicht und Haare. Dazu hatte sie breite Schweißränder unter Armen und Brüsten; das Kleid war aus Kunstfaser und im Grunde zu eng. Ein Glück nur, dass sie Linkshänderin war, sonst ginge Tolomei nun mit ihrem Tintenschweiß an der Hand durch die Stadt. Oder hätte er den Handschlag vermieden?
    Nora

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