Laessliche Todsuenden
Jahre lang moderiert hatte, wirklich »Fernsehgeschichte« geschrieben hatte, wie Henry behauptete, oder ob er ein eitler Kerl ohne »erkennbaren weltanschaulichen Kern« war, der immer nur »technisch opponierte«, weil es ihm gefiel, seine Gesprächspartner so heftig wie möglich zu provozieren. Das war Christophs Meinung, und Nora erkannte darin gerührt die blinde Loyalität ihres ältesten Freundes. Wahrscheinlich hatte sie sich damals, nach der Tintenfingeraffäre, auch bei ihm ausgeweint, und das war ein spätes Echo davon.
»Er ist wahnsinnig sexy«, hauchte Ela, »Billy Bob Thornton und Josef Tolomei, mehr brauch ich nicht für die einsame Insel.« Nora lachte laut, und Paul war verwirrt. »Was sagt die Expertin dazu?«, fragte er; dafür hätte Nora ihn am liebsten getreten. Stattdessen sah sie Ela in die Augen und flüsterte verschwörerisch, wie von Groupie zu Groupie: »Alt ist er geworden.« Sie hoffte, dass das komisch und nicht verräterisch klänge, wenn sie hier mit Ela fachsimpelte wie eine geile Hausfrau, sie wusste, dass das, was sie sagte, sachlich stimmte, aber dass sie trotzdem nicht ganz ehrlich war. Etwas wollte sie für sich behalten.
»Alt?«, fragte Ela mit gespieltem Entsetzen, »du meinst, versoffen? Keine Haare mehr? Hängebusen?«
»Vielleicht ein bisschen versoffen«, antwortete Nora, »auf attraktivste Weise. Aber sonst ganz wie früher. Die schönen Anzüge, die feinen Hemden. Die Sammetstimme. Nur eben älter und müder.«
»Sagt einmal, spinnt ihr?«, fragte Paul, und Nora nahm seine Gereiztheit befriedigt zu Kenntnis. Doch dann fragte er, was Tolomei eigentlich von ihr gewollt hatte. Diesen Moment hatte sie gefürchtet. Denn sie konnte sich Tolomeis Bitte auch nicht genau erklären, wollte das aber nicht zugeben. So sehr hatte sie sich ihm schon verpflichtet. »Nur ein paar Bänder ausheben, im Archiv«, sagte sie und sah sich angestrengt nach dem Kellner um, »der Sheriff und Konsorten, in den Achtzigern. Er glaubt, da gibt es vielleicht noch etwas.«
»Und für die Drecksarbeit findet er niemand anderen?«, fragte Paul mit anschwellendem Zorn, genau, wie sie es vorhergesehen hatte. Paul fand immer, dass sie ihr Talent verschwendete, dass sie zu viel nebenher und zu schlecht bezahlt machte, dass sie zu gutmütig sei, anstatt sich auf ihre eigenen Filme zu konzentrieren. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie sogar ihre Fernseharbeiten vor ihm rechtfertigen müssen, weil er einfach nicht glauben wollte, dass man nur als Mitarbeiter berechtigt war, das Archiv zu benutzen. Ihre eigenen Filme bestanden zu einem Gutteil aus »found footage«; sie war auf das Archiv angewiesen. Und die zeitgeschichtlichen Dokumentationen, die sie für den Sender zusammenstellte, machten ihr ja durchaus Spaß, sie waren nicht nur Pflicht und Broterwerb.
Paul aber war Deutscher, und ein paar Dinge würde er nie verstehen. Sie gab ihm absolut recht darin, dass hier vieles nach ungeschriebenen Gesetzen funktionierte, was man genauso gut transparent machen könnte. »Feudalismus und vorbürgerliche Verhältnisse, Willkür und Klientelwesen«, predigte Paul, der sich widersetzte und beschwerte, wo er konnte. Der einen Taxifahrer bei der Innung anzeigte, weil dieser ihn, als er sich auf dem Rücksitz anschnallen wollte, fragte: »Ham S’ Angst?« Der Journalisten Briefe schrieb, in denen er ihnen Ressentiment und Rassismus in ihren Artikeln nachwies, so brillant formuliert, dass sie es wahrscheinlich gar nicht verstanden. Der überall »den Piefke heraushängen lässt«, wie Nora nur ein Mal gesagt hatte. Meistens bewunderte sie ihn dafür. Und manchmal fragte sie sich insgeheim, wie lange Paul dazu die Energie haben würde. Ein interessantes Experiment. Wie lange würde Paul brauchen, um insofern ein gelernter Österreicher zu werden, dass er nur die aussichtsreichen Kämpfe aufnahm und nicht prinzipiell alle? Oder war er der erste, der gegen die Alltagsträgheit immun war?
Auch Noras Vater reagierte typisch, er fragte sofort nach »der Gage«. Seit er alt und verwitwet war, plagte ihn die Angst vor der Verarmung, und er war ständig besorgt, dass sich seine Kinder über den Tisch ziehen ließen. Nora hielt das für eine späte Verschiebung. Ihr Vater war selbst immer großzügig und entgegenkommend gewesen, jemand, der gern einen Gefallen tat und das für selbstverständlich hielt. Doch nun schien er das zu bereuen, beziehungsweise fürchtete er, dass seine Kinder, denen er keine Reichtümer
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