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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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›Granatapfel‹ gegangen, hätten inzwischen aber wohl die kontrollierte Anmut des ›Kore‹ vorgezogen, das, verglichen mit dieser verwegenen Beize, beinahe schon Chi-chi war.
    Aber nichts passte weniger zu Eleganz und Erscheinung der ersten Frau Haybach als dieser Ort. Und das bewies mir, dass sie ihn allein aus Arglist gewählt hatte. Sie hatte sich die Tücken der Topographie zunutze gemacht, weil sie um das Publikum ihres Gegen-Leichenschmauses nicht offen kämpfen, sondern es einfach in die Falle locken wollte.
    Als wir am Ende dieses Nachmittags wie früher einträchtig zusammen zur Straßenbahn gingen, weil Haybach und Mia beunruhigenderweise »noch ein bisschen bleiben« wollten, hat Ilka mein Verdikt von der Arglist probehalber mit Feigheit ersetzt. Als wäre das schmeichelhafter. Sie gehe davon aus, sagte sie, dass Frau Haybach weder sich noch Tichy zugetraut habe, die Trauergesellschaft explizit, also noch in Sichtweite des Grabes, umzulenken. »Das hätte einen Skandal gegeben«, sagte Ilka, und ich rief, »als ob es so keiner wäre!« »Höchstens ein stiller Skandal«, wandte sie ein, die, da sie ihren Bekannten mit seinem Auto nach Hause geschickt hatte, nun meinte, sich bei mir einhängen zu können, »was übrigens ein Paradox ist wie eine Totgeburt.«
    Und dann zog sie aus einem Briefkuvert die zweifach gefaltete Traueranzeige, die ich nie gesehen hatte, weil ich Haybach telefonisch kondoliert hatte und bei dieser Gelegenheit ins ›Kore‹ eingeladen worden war. Auf teurem dicken Papier mit gezacktem Rand hieß es am Ende: »In tiefer Trauer Heinz und Ulla Haybach sowie Rument und Joana«. Keine Mia, kein Tichy, dafür Rument und seine Frau unter »sowie«, als wären sie noch Kinder. Die dreiste Vorspiegelung alter, heiler Verhältnisse, in die leider jäh der Tod eingebrochen ist. Über dem Kleingedruckten, das angab, wo man sein Geld besser als in Kränze investieren möge, stand klar und deutlich: »Im Anschluss an die Trauerfeier bittet die Familie ins Künstlerschlösschen Kore«. »Ja«, sagte Ilka und begann, ohne stehen zu bleiben, schrecklich zu weinen, »das war alles vorher ausgemacht.«
    Von all den Menschen hier hatte nur sie erkannt, was gespielt wurde. Sie, die ihre Umwelt immer so manisch beobachtete, dass ihr darüber die Laufmaschen und manchmal der eigene Schweißgeruch entgingen, Ilka, dieses Herz auf Beinen, das sich rührenderweise für eine schizophrene Zynikerin hält, hatte alles bemerkt und in den richtigen Zusammenhang gebracht, den vorzeitig verschwundenen Tichy, der plötzlich hilfreich an der Ecke stand, das heimelige Schild »Zum Granatapfel«, das der Einladung zuwiderlief, und die »Familie Kern«, die von der großen Trauergesellschaft nicht im Geringsten überrascht gewesen war. Aber anders als ich und wahrscheinlich als die meisten, denen der Lokalwechsel überhaupt aufgefallen war, nahm sie diesen letzten Umstand nicht als beruhigend hin, sondern hielt ihn gerade für verdächtig. Sie zog zwar in Betracht, dass nicht alle Welt so pedantisch war wie sie und dass gerade im Trauerfall eine kleine Änderung zu kommunizieren vergessen worden sein konnte, doch sie kannte Haybach. Ja, sie schien Haybach wirklich gut zu kennen, besser, als ich je gedacht hatte, denn sie ahnte, dass er Tichy niemals so in der Sonne hätte stehen lassen.
    Und obwohl sie in den Winkel einer Sitzbank gedrängt worden war und es unangenehm fand, alle noch einmal aufstehen zu lassen, hielt sie die Ungewissheit nicht aus. Sie kletterte auf die Bank und zwängte sich gebückt, hinter den Rücken der anderen, hinaus, sie bemühte sich, dabei niemandem mit dem Absatz in den Steiß zu treten, und entschuldigte sich ununterbrochen murmelnd für alles. Ihr Begleiter, der blasse Informatiker, hatte noch gar keinen Platz gefunden, sie nahm ihn am Arm und zog ihn mit sich. Und während immer mehr junge Leute in den ›Granatapfel‹ strömten, schweigend, verweint oder hysterisch lärmend, bahnte sich Ilka mit ihrem im Grunde völlig unbeteiligten Bekannten einen Weg zurück, stapfte, sich den eigenen Verdacht kaum glaubend, am eifrig einweisenden Tichy vorbei und hielt im ›Kore‹ Nachschau.
    Als sie keine zehn Minuten später noch einmal herbeistürmte, um mich und die paar wenigen, die sie sonst noch kannte, zu holen, hatte Tichy seinen Posten verlassen. Die Arbeit war getan, die Gasse leer. Die Sonne stand hoch am Sommerhimmel, Percass lag jung und unbeweglich unter der Erde, Rument wappnete

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