Laessliche Todsuenden
fragte ich sie platterdings, und sie lächelte, wieder kühler, und sagte: »Es hilft immer, die Dinge probeweise umzudrehen wie einen Handschuh.«
Heinz Haybach konnte Percass keine Hilfe sein. Rument rief seinen Vater nur am Geburtstag und zu Weihnachten an, beide Male akkurat gegen zehn Uhr vormittags. Diese heruntergespulten Glückwünsche waren eine Demütigung, zumindest eine Demonstration. Aber trotzdem wollte Haybach Percass’ Versöhnungsbemühungen nicht automatisch gutheißen. »Wahrscheinlich hat er die Allmachtsphantasie dahinter gewittert«, sagte Mia, die mir inzwischen wie die göttliche Ehefrau-Fügung zu Haybach vorkam, eine passgenaue Hohepriesterin der Gelassenheit.
Zu Percass habe Haybach gesagt, dass es eben nicht so einfach sei, »das Wenigste ist einfach, eigentlich fast nichts, und nie das Interessante«, hatte Haybach, der Universitätslehrer, schon immer gepredigt. »Du festigst Ruments Überzeugungen noch«, belehrte nun der Vater seinen Erstgeborenen, »man kann erst nachdenken, wenn man Platz dafür hat.« Und so befanden sich auch diese beiden gerade nicht im allerbesten Einvernehmen, als Percass, der selbst nicht trank, im Morgengrauen nach einer Party den Wagen eines Alkoholisierten bestieg und bei einem von diesem verschuldeten Unfall sein Leben verlor.
Aus der Küche kam ein Mann mittleren Alters, mit dunklen Ringen unter den Augen und einem Dreitagesbart. Er trug eine frische weiße Jacke und trat dezent, aber unbeirrt auf Frau Haybach zu. Mit halb gesenktem Kopf stellte er sich neben ihrem Barhocker auf und fragte bescheiden, ob man, nachdem niemand mehr zu kommen scheine, aufräumen und wieder für freies Publikum öffnen könne. Er bedauere ganz außerordentlich, sei aber gezwungen, für das exklusiv reservierte Lokal die Grundkonsumation von vierhundert Euro zu verlangen, da der Umsatz ja nicht auf die herkömmliche Weise gemacht worden sei, gnädige Frau hätten doch sicherlich Verständnis. »Aber selbstverständlich, lieber Herr Opletal, machen Sie ruhig wieder auf«, sagte Mia Haybach freundlich, »ich danke Ihnen sehr, und es geht alles so in Ordnung.« Der Wirt nickte heftig und erfreut und beeilte sich mitzuteilen, dass die wenigen Konsumationen, der Sekt, der Rotwein, der Kuchen in diesem Pauschalpreis natürlich enthalten seien. Dies schien Mia Haybach nun doch zu befremden, und sie wollte sich wieder mir zuwenden, doch Opletal wich nicht. »Was ist denn noch, mein Lieber«, fragte sie, und er murmelte, »die Fotos, die Blumen, wollen Sie, sollen die … Sie verstehen?«
Mia lachte. »Ach Gott«, sagte sie, »was für Probleme.« Und dann bat sie den Mann, die Blumen einfach stehen zu lassen, gerne weiterzuverwenden, und ihr nur die Fotos einzupacken. Sie sagte »einpacken«, so wie früher, als man in den meisten Lokalen das übrig gebliebene Essen für zu Hause mitnehmen konnte. Wahrscheinlich taten das die älteren Friedhofsbesucher immer noch, wie von jeher mit der beliebten Lüge, es sei für den Hund.
Im ›Granatapfel‹ hätte sogar ich mich getraut, danach zu fragen, wie früher, in meiner Kindheit, als ich manchmal am Sonntag Mittag, schon voller Vorfreude auf das Abendessen, ein halbes Schnitzel im Stanniolpapier nach Hause trug, aus dem »Restaurant«, wie man damals für jedes schmierige Wirtshaus sagte. Man zeigte beim Zahlen einfach auf die Reste am Teller und sagte »bitte einpacken«, dann brachten die Kellner die Alufolie, die damals noch den altvertrauten, falschen Namen trug. Das ›Granatapfel‹, das kein Mensch, der es nicht kannte, je gefunden hätte, war genau diese Art von Lokal.
Es tauchte unvermutet auf, sobald man um die Gartenmauer des ›Kore‹ herumgegangen war, da, wo die kleine, kopfsteingepflasterte Gasse nun wirklich ihr Ende fand. Das gemalte Schild »Zum Granatapfel – Familie Kern – herzlich willkommen« markierte die Ecke eines weit größeren Gebäudes, wahrscheinlich eines Bauernhauses, das baufällig und unbewohnt aussah. Dahinter begannen die Felder. Familie Kern schien seit Generationen nicht renoviert zu haben, nicht einmal ausgeweißt, und jeder Filmausstatter oder Alltagshistoriker hätte ihr dafür die Füße geküsst. Ein niedriger, L-förmiger Raum, schmiedeeiserne Kleiderhaken an dunkel vertäfelten Wänden, weiß gescheuerte Holztische und handgeschnitzte Bierdeckelständer – wenn Ilka und ich uns zwischen den beiden Lokalen hätten entscheiden sollen, wären wir als Studenten garantiert in den
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