Laessliche Todsuenden
verbrachte die nächsten Tage damit, sich immer wieder, in allen Facetten, die Fallhöhe auszumalen, zwischen dem Bild, das sie abzugeben gemeint hatte, und dem, das sie tatsächlich bot. Den Unterschied zwischen einer engagierten, berufsspezifisch abgehetzten Jungjournalistin und einer verschwitzten, verschmierten Irren. Sie spielte im Kopf alles durch, Tolomei anrufen, einen Brief schreiben, ins Ausland flüchten und einen anderen Beruf ergreifen, wo sie nie wieder unentzifferbaren Menschen wie ihm begegnen würde. Am Ende tat sie nichts davon, und das Leben ging einfach weiter.
Sie konnte kaum glauben, dass er das alles vergessen hatte.
Sie saß angespannt am Telefon und wartete darauf, dass er mit einem scherzhaften Wort die alte Wunde berührte. Doch er ließ nicht erkennen, dass er sich überhaupt daran erinnerte. Gut, es war fast zwanzig Jahre her. Mit seiner unverschämt schönen Stimme machte er einige holprige Komplimente über ihre Arbeit, über »Ihren beeindruckenden Weg in den letzten Jahren«, und sie unterstellte sofort, dass er das beherrschte wie seine Muttersprache, ein Kompliment hölzern klingen zu lassen, damit es überzeugend war. Er berief sich auf einen gemeinsamen Freund, der ihn ermutigt habe, sie in einer bestimmten Sache anzurufen. Die Erwähnung dieses Mannes, Richard Bialik, der eigentlich ein Freund ihres Vaters war, wirkte. Nora entspannte sich. Wer bei dieser Tür eintreten wollte, trug keinen Dolch.
In letzter Zeit verspottete sie Bialik als »neuen Konsensjuden«, weil er im Alter so mild und versöhnlich geworden war, dass er inzwischen von allen Seiten, auch den fragwürdigeren, geehrt und als »jüdische Stimme« zum Gespräch eingeladen wurde. Trotzdem hing sie mit kindlicher Liebe an ihm. Sie und ihre Geschwister hatten sich einst auf seinen Knien ein paar Brocken Russisch beibringen lassen, »Nina, Nina, vot kartina: eto traktor i motor«, und unschuldig gelacht, wenn ihr Vater über Bialiks mehrfach gebrochene Nase sagte: »Seit er auch noch die hat, schaut er wirklich aus wie zehn Juden.« Dass sich einer wie Tolomei bei Richard Bialik rückversicherte, bevor er sie anrief, schmeichelte ihr. Aber das erkannte sie erst später.
»Keine besonderen Vorkommnisse«, murmelte Nora, als sie ins ›Blaubichler‹ kam. Sie hängte umständlich ihren Wintermantel auf, nahm ihn dann noch einmal vom Haken und wühlte in den Taschen herum, obwohl sie gar nichts suchte. Sie ärgerte sich sofort über Pauls Miene. Der schaute extra so pompös, um die anderen auf Noras Eintreffen aufmerksam zu machen. Achtung, Leute, gleich kommt die Fortsetzung der Tintenfinger-Geschichte, schien sein Gesicht zu sagen, jetzt passt mal auf. Ein Impresario, der gar nicht weiß, ob sein Artist in Form ist, dachte Nora, und Pauls Präsentierstolz kam ihr falsch und hohl vor. Sie setzte sich nicht, sondern flüchtete aufs Klo. Dort starrte sie ihr Spiegelbild so konzentriert an wie sonst nur, wenn sie betrunken war. Das also hatte Tolomei diesmal gesehen, es war nur ihr Gesicht, blass und fremd. Sie war enttäuscht. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber mehr als das, was gewesen war. Nach dem missglückten Interview hatte sie sich nichtig gefühlt, zerschmettert. Seit damals war es darum gegangen, groß und stark zu werden, sich zu beweisen, dass sie mehr war als ein »extrem schüchternes Mädchen«, wie eine Redakteurin der Wochenendbeilage Noras Vater unbedingt als Redaktionsmeinung hatte hinterbringen müssen. Mehr als ein nervöser Schmierfink. Und das hätte jetzt auch er, der zufällige Zeuge von damals, bestätigen sollen, da er sie nun einmal angerufen hatte und irgendetwas von ihr wollte. Sie hatte sich fünfmal umgezogen, bevor sie in diese Bar gegangen war, sie hatte sogar überlegt, ob sie Bialik anrufen sollte, um herauszufinden, was Tolomei überhaupt wollte. Aber das war alles gar nicht nötig gewesen. Der Tolomei, der in der Marietta-Bar auf sie gewartet hatte, war die überraschend kleine, die zu heiß gewaschene Wirklichkeit, jedenfalls im Verhältnis zu ihren Seelenblähungen. Er schien erschöpft und müde, er wollte sie nur schnell um einen kleinen Gefallen bitten und dann gleich nach Hause. Sie aber musste anschließend noch auf die Bühne ihrer Freunde, um zu verkünden, dass es diesmal kein Stück gab.
Als sie an den Tisch zurückkam, hatte Paul sein Werk bereits vollbracht. Christoph und Henry stritten darüber, ob Tolomei mit der Diskussionssendung, die er einige
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