Lakritze - Thueringen Krimi
vorgegangen, die ihn erschreckte. Er hatte die Tote eingehend betrachtet, und er war kaum entsetzt gewesen. Der blutverkrustete Mund hatte etwas in ihm zum Klingen gebracht. Obwohl es den ganzen Abend in ihm gebohrt hatte, wusste er nicht, was und wieso. Erst in der Nacht, als sie längst im Bett lagen, da war die Erkenntnis unvermittelt über ihn gekommen. Da hatte es ihn aufgeschreckt, denn es war nicht das erste Mal, dass er eine Leiche ohne Zunge vor sich gehabt hatte. Er hatte wie erstarrt gelegen und gebetet, dass das Wissen verschwinden möge. Vergebens.
Wer war er, verdammt noch mal?
Nach Angaben der Polizei war er an einem gewöhnlichen Montagmorgen Opfer eines Banküberfalls geworden. Reiner Zufall, dass er dem Täter in die Quere gekommen war, einem schießwütigen Revolverhelden, der ohne Vorwarnung seine Pistole gezogen und abgedrückt hatte. Die Kugel war in seinen Kopf gedrungen, hatte die Großhirnrinde durchschlagen und den Thalamus verletzt. Ein paar Millimeter weiter, und er wäre tot gewesen. Er hatte Glück gehabt, doch er konnte sich an nichts erinnern. Selbst seinen Namen hatte er vergessen.
Der Ausweis, den er bei sich gehabt hatte, wies ihn als Ralph Bartwick aus. Auch seine Adresse stand im Ausweis. Die Nachbarn sagten, er hätte zurückgezogen gelebt und sich mit Malerei beschäftigt. Deshalb nahm er an, er sei Künstler. In seiner Wohnung hingen Bilder, großformatige Gemälde voller Farbkleckse, überwiegend in roten Schattierungen und mit seinem Namen – Ralph Bartwick – in der rechten unteren Ecke. Die Bilder hatten ihn angezogen wie eine Motte vom Licht.
Genau wie die Leiche.
Was hatte ein Maler mit Toten zu tun? Wo war die Verbindung? Er dachte an Carla. Die Ermordete und sie sahen sich ähnlich. Auch Carla war schmal, ein jungenhafter Typ. Er schaute auf seine Hände, und ihm wurde bewusst, dass er sie seit Minuten immer wieder zusammenballte und öffnete. Rasch versteckte er sie in den Taschen seiner Hose.
Während er ans Fenster trat, schob er seine Brille nach oben. Sie war ihm ein wenig zu groß und rutschte ständig nach vorn. Es war ein Modell aus dem Fundus des Krankenhauses, übrig geblieben von wer weiß wem. Die Ärzte sagten, er bräuchte sie nicht, seine Sehkraft sei wieder völlig normal. Doch er hatte die Brille trotzdem behalten, auch wenn er sie nur manchmal trug. Sie war sein Schutzschild, hinter dem er sich sicher fühlte.
Er schaute hinaus, aber er nahm kaum den blauen Himmel wahr, über den einige Schäfchenwolken schipperten. Seine Gedanken kreisten um Jürgen Zeuner, den Klinik-Psychologen. Von ihm wusste er, dass er den Ärzten ein Rätsel aufgegeben hatte. Die Ärzte selbst hatten ihm davon nichts gesagt. Jürgen hatte gemeint, sie wären zum Stillschweigen verdonnert worden. Und dann waren da noch die dunkel gekleideten Männer gewesen, die ständig auf dem Flur herumgelungert hatten. Jürgen hatte sie als Mitarbeiter einer Behörde bezeichnet. Von welcher Behörde, das wollte oder konnte er nicht sagen. Vielleicht waren sie von der Polizei oder vom BND . Aber was hatten sie mit ihm zu tun?
Jürgen hatte ihm einiges verraten, was nicht in den Befunden stand. Es gab Ungereimtheiten, seine Augen zum Beispiel. Die Netzhaut wies Spuren auf, die vom Tragen von Kontaktlinsen herrührten. Dabei war sein Sehvermögen normal, er brauchte keine Brille. Dann sein Haar. Er war blond, doch als der Krankenwagen ihn ins Krankenhaus gebracht hatte, waren seine Haare schwarz gefärbt gewesen. Kein Grund zur Beunruhigung, wie er fand. Viele Menschen färbten sich ihr Haar. Doch laut Jürgen hatten Untersuchungen ergeben, dass sein Haar ungewöhnlich oft gefärbt worden war, und noch dazu mit einer Substanz, die es weder in Friseurgeschäften noch im Fachhandel gab. Mehr wusste Jürgen nicht dazu zu sagen, doch immerhin so viel, dass die bewusste Substanz weit aggressiver als die üblichen Präparate war. Die dunkle Farbe hatte sich bis in die unterste Schicht der Kopfhaut gefressen. So etwas würde sich kein vernünftiger Mensch antun, hatte Jürgen gemeint.
Ralph lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. Das Glas war kühl. Niemand hatte ihm erklären wollen, warum überhaupt solche Untersuchungen an ihm vorgenommen worden waren. Der Oberarzt hatte von Routine gesprochen, doch er hatte das nervöse Flackern in den Augen des Arztes gesehen. Was wussten die Ärzte und die Männer auf den Gängen, das sie vor ihm verborgen hielten? Wusste Jürgen, wer er war?
Jürgen
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