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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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stillen – Haus. Sie hatten sich nie wiedergesehen. Jahrelang nicht. Dann kam Horeau.
    »In Paris war kein Schnee.«
    »Hier gibt es jede Menge Schnee.«
    Von Angesicht zu Angesicht. Große Korbsessel. Sie atmen die Stille, ohne nach Worten zu suchen. Dasein, schon das ist eine Geste. Sie hat ihre eigene Schönheit. Viele Minuten, vielleicht eine Stunde so. Dann, beinahe unmerklich, beginnt Hector Horeaus Stimme in den Raum zu gleiten.
    »Man glaubte, daß er nicht halten würde. Wenn die Menschenmassen zur Eröffnung kämen, zu Tausenden und Abertausenden, würde er zusammenfallen wie ein Kartenhaus, und eigentlich sei er ja auch ein Kartenhaus, ja schlimmer noch: aus Glas. So hieß es. Er würde einstürzen, sobald man den ersten dieser gigantischen Eisenbögen draufsetzte; wenn man ihn draufsetzt, bricht alles zusammen, schrieben die Experten. Dann kommt der große Tag, und ein gut Teil der Stadt ist extra herbeigeströmt, um alles einstürzen zu sehen. Sie sind gigantisch, diese Eisenbögen, diese Gewölberippen, die das Querschiff halten, Dutzende von Lastwinden und Rollen sind nötig, um sie – langsam – hochzuheben, sie müssen bis zu fünfundzwanzig Meter in die Höhe steigen und dann auf die Säulen gesetzt werden, die vom Boden aufragen. Man braucht mindestens hundert Mann dafür. Sie arbeiten vor aller Augen. Alle da, in Erwartung der Katastrophe. Sie brauchen eine Stunde. Als schließlich nur noch der Bruchteil einer Sekunde bis zum entscheidenden Augenblick fehlt, hält es jemand nicht mehr aus und senkt den Blick, er will es nicht mitansehen, und so sieht er auch nicht, wie die gigantischen Eisenbögen sanft hinuntergleiten und sich auf die Säulen setzen wie riesige Zugvögel, die von weither gekommen sind, um sich hier auszuruhen. Jetzt applaudieren die Leute. Sie sagen, ich habe es ja gleich gesagt. Dann gehen sie nach Hause und erzählen das alles, und ihre Kinder hören mit großen Augen zu. Nimmst du mich mal mit zum Crystal Palace? Ja, ich nehme dich mal mit, schlaf jetzt.«
    Mr. Rail hat ein neues Buch zur Hand genommen und trennt mit einem silbernen Papiermesser eine nach der anderen die Seiten. Er befreit eine Seite nach der anderen. Als fädelte er Perlen auf eine Schnur, eine nach der anderen. Horeau malträtiert seine Hände und schaut vor sich hin.
    »Dreihundert Soldaten des Corps of Royal Sappers. Ein Mann um die fünfzig befehligt sie, schrille Stimme und großer weißer Schnauzbart. Man glaubte nicht, daß die oberen Galerien das Gewicht der vielen Leute und den ganzen Krempel für die Weltausstellung tragen könnten. Darum hat man die Soldaten geholt. Alles junge Burschen, weiß der Himmel, ob sie Angst haben. Man will, daß sie da hinaufsteigen und auf den Holzbrettern entlangmarschieren, die nach der allgemeinen Überzeugung einstürzen müßten. Sie klettern hinauf und gehen zu zweit nebeneinander über die Laufstege. Eine nicht enden wollende Prozession. Weiß der Himmel, ob sie Angst haben. Zuletzt stellen sie sich wie bei einer Parade in Reih und Glied da oben auf, sie haben sogar Gewehre dabei, jeder seins, und einen Tornister voller Steine. Die Arbeiter sehen von unten aus zu und denken, was für ein komischer Krieg. Der Mann mit dem weißen Schnauzbart brüllt einen Befehl, und die Soldaten stehen stramm. Noch ein Gebrüll, und sie marschieren los, exakt in Reih und Glied, ohne Rücksicht auf Verluste. Bei jedem Schritt könnte alles zusammenkrachen, aber in diesen dreihundert Gesichtern ist nichts zu lesen, keine Angst, kein Erstaunen, gar nichts. Perfekt gedrillt, um dem Tod entgegenzumarschieren. Ein packendes Schauspiel. Von weitem sieht es wie ein Krieg in einer Flasche aus, eine Präzisionsarbeit, mehr als nur Segelschiffe oder so etwas. Ein in eine große Glasflasche gefädelter Krieg. Das rhythmische Donnern der Schritte prallt gegen die Glaswände, springt zurück und wirbelt durch die Luft. Einer der Arbeiter hat eine Mundharmonika in der Tasche. Er zieht sie heraus und stimmt im Rhythmus dieses ziellosen Marsches God save the Queen an. Gar nichts wird zusammenbrechen, sie werden alle lebend herunterkommen. Der Klang der Mundharmonika ist schön. Sie erreichen das Ende der Galerie und halten an. Das Gebrüll des Mannes mit dem weißen Schnauzbart läßt sie anhalten. Ein weiteres läßt sie kehrtmachen. Sie marschieren ein zweites Mal los und dann ein drittes Mal. Man kann nie wissen. Hin und her, zehn Meter über der Erde, auf einem Holzboden, der nicht

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