Land aus Glas
schließlich hin, zu dieser Verabredung um fünf Uhr, genau im Zentrum des neuen Crystal Palace, den wir inmitten von kilometerweiten Gärten und Seen, Springbrunnen und Labyrinthen wiederaufgebaut haben. Rebecca hat schneeweiße, fast durchsichtige Haut. Wir spazieren an den großen exotischen Pflanzen vorbei und an den Plakaten für den nächsten Boxkampf zwischen Robert Dander und Pott Bull, die Herausforderung des Jahres, Eintrittskarten am Eingang auf der Ostseite, gemäßigte Preise. Ich bin der, der den Crystal Palace entworfen hat. Ich bin Rebecca. Die Leute ringsumher gehen auf und ab, setzen sich, plaudern. Rebecca sagt: Ich habe einen wunderbaren Mann geheiratet, er ist Arzt, vor einem Monat ist er verschwunden, ohne mir ein Wort zu sagen, ohne mir auch nur eine Zeile zu hinterlassen, ohne irgend etwas. Er hatte ein etwas ausgefallenes Hobby, praktisch schon eine Manie, er hatte jahrelang daran gearbeitet: Er schrieb ein fiktives Lexikon. Ich meine, er dachte sich berühmte Persönlichkeiten aus, also Künstler, Wissenschaftler, Politiker, und schrieb ihre Biographie und das, was sie gemacht hatten, auf. Tausende Namen, Sie werden es kaum glauben, aber so war es. Er ging alphabetisch vor, bei A hatte er angefangen, und früher oder später würde er bei Z anlangen. Er hatte Dutzende vollgeschriebener Hefte. Er wollte nicht, daß ich sie las, aber als er dann weg war, nahm ich das letzte Heft und schlug es da auf, wo er aufgehört hatte. Er war bis H gekommen. Der letzte Name war Hector Horeau. Da stand Ihre ganze Geschichte und auch die Sache mit dem Crystal Palace, bis zum Ende. Ende? Was für ein Ende? Bis zum Ende, sagte Rebecca. Und so habe ich erfahren, wie der Crystal Palace enden sollte. Aus dem Mund dieser Frau, die sich mit grenzenloser Eleganz bewegte und schneeweiße, fast durchsichtige Haut hatte. Ich fragte sie: Was für ein Ende? Und sie erzählte es mir.«
Mr. Rail saß reglos da und sah ihn an. Er hatte sein Buch über Springbrunnen auf den Boden gelegt und drehte das silberne Papiermesser hin und her, wobei seine Finger über diese Klinge ohne Spitze und ohne Schliff glitten. Ein kleinmütiger Dolch. Für müde Mörder. Hector Horeau starrte vor sich hin und sprach mit sanfter Unerschütterlichkeit.
»Acht Musiker, die gerade Probe hatten, waren dort. Es war spät am Abend, und sie waren allein im Crystal Palace, sie und ein paar Wächter. Sie übten für das Konzert am Samstag. Sie wirkte winzig klein, diese Musik, verloren inmitten dieser Weiträumigkeit aus Eisen und Glas. Es klang, als spielten sie ein Geheimnis. Da fing ein Samtvorhang Feuer, niemand hat je sagen können, wieso. Der Cellospieler sah aus den Augenwinkeln, wie sich diese merkwürdige Fackel am anderen Ende des Palasts entzündete, und nahm den Bogen von den Saiten. Sie hörten nacheinander zu spielen auf, ohne ein Wort zu sagen. Sie wußten nicht recht, was sie tun sollten. Es schien eine Lappalie zu sein. Zwei Wächter waren unverzüglich herbeigeeilt und gaben sich große Mühe, den Vorhang herunterzureißen. Sie bewegten sich rasch zwischen den Lichtzungen, die die Flammen nach allen Seiten auswarfen. Der Cellist nahm die Partituren vom Notenständer. Er sagte: Vielleicht sollten wir Hilfe holen. Einer der Geiger sagte: Ich verschwinde hier. Sie packten ihre Instrumente in die Kästen und gingen einzeln hinaus. Einer blieb zurück und betrachtete die immer höher schlagenden Flammen. Dann ging alles sehr schnell. Ein Beet mit Sträuchern, nur wenige Schritte vom Vorhang entfernt, loderte auf wie ein Blitz und begann heftig zu prasseln, bis es den Petroleumleuchter umzüngelte, der an der Decke hing und jetzt mit solcher Wucht herabfiel, daß das Feuer sich im Nu wie ein Geflecht aus Flammenbächen, das wie wild gegen alles andere geschleudert wurde, ringsumher auszubreiten schien, in einer jähen Pestilenz aus Feuer, Licht, Qualm und glühender Zerstörung. Ein packendes Schauspiel. In wenigen Minuten verschlangen die Flammen zentnerweise Gegenstände. Von außen sah der Crystal Palace nun wie eine gigantische, von Riesenhand entzündete Lampe aus. In der Stadt ging man ans Fenster und fragte: Was ist das für ein Licht? Ein dumpfes Knistern wälzte sich von den Parkwegen langsam hinunter und erreichte die ersten Häuser. Dutzende Leute eilten herbei, dann Hunderte, dann Tausende. Um zu helfen, zu schauen, zu schreien, alle mit nach oben gewandtem Kopf, um dieses überdimensionale Feuerwerk zu betrachten. Sie
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