Land aus Glas
gesehen haben mag, ich weiß es nicht; er hat einen immer mit diesen verrückten Augen angesehen, er sah einen nicht an, wie alle andern es tun, er hatte so eine Art … kann es sein, daß ausgerechnet das ihn das Leben gekostet hat? Was hatte er vor Augen, daß er sich so umbringen ließ? Was zum Teufel hat er gesucht … was zum Teufel hat er gesucht …«
An einem Januarnachmittag acht Monate nach dem Fest des heiligen Laurentius brachten sie Mormy um. Mr. Rail war verreist, niemand wußte wohin. Jun war allein, als Mormy beerdigt wurde. Und sie blieb es noch viele Tage, bis endlich ein Päckchen bei ihr eintraf, auf dessen braunem Papier in schwarzer Schrift ihr Name stand. Sie schnitt die Schnur durch, die es zusammenhielt, und schob das braune Papier beiseite. Darunter war weißes Papier. Sie öffnete das weiße Papier, das ein rotes Papier umhüllte, das eine veilchenblaue Schachtel enthielt, in der sie ein gelbes Stoffkästchen fand. Sie öffnete es. Es lag ein Juwel darin.
Da rief Jun Brath zu sich und sagte: »Mr. Rail kommt zurück. Finde heraus, wann und wo er ankommen wird. Ich will ihm entgegengehen.«
»Aber das ist unmöglich, kein Mensch weiß, wo er hingefahren ist!«
»Bring mich zu ihm, Brath. So schnell du kannst.«
Zwei Tage später saß Jun auf dem Bahnhof einer Stadt, von der sie nicht einmal gewußt hatte, daß es sie gab. Züge kamen an, Züge fuhren ab. Doch sie saß beharrlich da und schaute vor sich hin. Sie atmete ruhig, unter einem Schleier grenzenloser Geduld. Stunden vergingen. Dann kam ein Mann auf sie zu, der Mr. Rail war.
»Jun, was machst du denn hier?«
Sie stand auf. Sie schien um Jahre gealtert. Doch sie lächelte und sagte leise: »Verzeih mir, Dann. Aber ich muß dich etwas fragen.«
Brath stand ein paar Schritte weiter hinten. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
»Du hast einmal gesagt, daß wir niemals sterben werden, wir beide. War das die Wahrheit?«
Die Züge kamen und gingen, wie verrückt. Und all die Menschen, die ein- und ausstiegen, jeder damit beschäftigt, an seiner Geschichte zu stricken, mit den Nadeln seines Lebens, eine verfluchte und schöne Arbeit, eine endlose Aufgabe.
»Es war die Wahrheit, Jun. Ich schwöre es dir.«
Als Mr. Rail nach Hause kam, fand er eine schreckliche Stille und einen ungebetenen Gast vor: Ingenieur Bonetti. Er redete viel, der Ingenieur, und kam dabei immer wieder auf zwei Wendungen zurück, die er offenbar für entscheidend hielt: »bedauerlicher Unfall« und »tadelnswerter Zahlungsrückstand«. Mr. Rail hörte ihm eine Weile zu, an der Tür, ohne ihn ins Haus zu bitten. Dann, als er endgültig davon überzeugt war, daß dieser Mann ihn anwiderte, unterbrach er ihn und sagte: »Ich möchte, daß Ihre Männer bis heute abend verschwunden sind. In einem Monat bekommen Sie Ihr Geld. Und jetzt gehen Sie!«
Verärgert brummte Ingenieur Bonetti etwas vor sich hin.
»Und noch etwas: An dem bewußten Tag waren ungefähr vierzig Männer da unten. Einer von ihnen hat einen Volltreffer gelandet oder hatte großes Pech. Sollten Sie ihn kennen, richten Sie ihm aus, daß ihm alle hier verziehen haben. Aber sagen Sie ihm auch folgendes: er wird dafür büßen. Es ist böse gelaufen, und er wird dafür büßen.«
»Ich kann Ihnen versichern, Mr. Rail, daß ich als Überbringer einer so brutalen Nachricht nie in Frage käme, denn wie ich Ihnen schon sagte, ist mir in keiner Weise bekannt, um wen es sich überhaupt …«
»Verschwinden Sie! Sie stinken zum Himmel!« Am folgenden Tag war die Baustelle menschenleer. Alle verschwunden. Neun Kilometer und vierhundertsieben Meter Schienen lagen vor Elisabeth. Reglos. Stumm. Sie hörten irgendwo in einer Wiese auf, mitten im Gras. Genau dort kam Mr. Rail an, nachdem er in aller Ruhe stundenlang allein durch einen feinen Regen gewandert war. Er setzte sich auf das letzte Gleisstück. Als er sich umschaute, gab es nichts als Wiesen und Hügel, alles ertränkt in diesem grauen Wasser, das von oben herabglitt. Wohin man sich auch wandte, alles sah verflucht eintönig aus. Nichts, was zu einem sprach oder einen ansah. Eine aufgeweichte Wüste, ohne Worte und ohne Ziele. Mr. Rail schaute sich unentwegt um, aber es war nicht daran zu denken, der Sache auf den Grund zu kommen. Er konnte es wirklich nicht verstehen. Nichts zu machen. Er konnte es wirklich nicht erkennen. Wo das Leben war.
2
Mr. Rail und Hector Horeau, die sich gegenübersitzen, mitten im Winter, mitten in dem großen – und
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