Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
Vom Netzwerk:
schütteten natürlich eimerweise Wasser darauf, doch nichts konnte dieses Inferno aufhalten. Alle sagten: Er wird halten, denn ein solcher Traum kann nicht einfach vergehen. Alle dachten: Er wird halten, und alle, wirklich alle fragten sich: Wie kann etwas aus Eisen und Glas in Flammen aufgehen?, wie ist so was nur möglich, Eisen brennt nicht, Glas brennt nicht, und trotzdem verschlingt das Feuer jetzt alles, buchstäblich alles, da ist doch was faul, das kann nicht sein. Das ergibt keinen Sinn. Und es ergab wirklich keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn, und trotzdem zersprang, als es dort drinnen irrsinnig heiß geworden war, die erste Glasscheibe, was beinahe niemand bemerkte, es war nur eine von Tausenden, wie eine Träne, niemand sah sie, aber das war das Signal, das Zeichen für das Ende, und so war es wirklich, wie alle erkannten, als nun nacheinander sämtliche Glasscheiben zersprangen und im wahrsten Sinne des Wortes in die Brüche gingen, ein Knallen wie Peitschenhiebe, in das große Prasseln des unermeßlichen Brandes gesät, überall flog Glas durch die Luft, ein faszinierendes Ereignis, eine Aufregung, die einen in der taghell erleuchteten Nacht mit dem Bild der umherspritzenden Glassplitter vor Augen erstarren ließ, ein tragisches Fest, ein Schauspiel, bei dem man unverzüglich in Tränen ausbrechen konnte, ohne genau zu wissen warum. Weil die zehntausend Augen des Crystal Palace brachen. Darum. Und dann kam das Ende. Der Crystal Palace, nunmehr ein gigantischer Scheiterhaufen, der noch die ganze Nacht hindurch die Gemüter erregte, verging nach und nach auf diese sinnlose Weise, doch in großem Stil, das muß man sagen, in großem Stil. Er ließ sich Stück für Stück auffressen, fast ohne Widerstand zu leisten, und brach schließlich zusammen, ein für allemal besiegt, sein Knochengerüst zersplitterte, grausam zerstört; der große Eisenträger, der ihn von vorn bis hinten durchzogen hatte, stürzte ein – am Ende seiner Kräfte –, nachdem er stundenlang gehalten hatte, und zerbarst mit ohrenbetäubendem Getöse, das niemand mehr vergaß, es war noch kilometerweit zu hören, als sei eine riesige Bombe explodiert, um die Nacht ringsumher und jedermanns Schlaf zu zertrümmern, Mama, was war das? Ich weiß es nicht, Ich habe Angst, Du brauchst keine Angst zu haben, schlaf weiter, Aber was war das? Ich weiß es nicht, mein Kind, es wird was kaputtgegangen sein, der Crystal Palace ist kaputtgegangen, ganz recht, er ist in die Knie gegangen und hat kapituliert, ein für allemal in Schutt und Asche, Schluß, aus und vorbei, so war das, alles vorbei, ein für allemal vorüber, in nichts aufgelöst, für immer und ewig. Wer immer das geträumt hat, jetzt ist er aufgewacht.«
    Schweigen.
    Mr. Rail hat den Blick gesenkt. Er mißhandelt seine Handfläche mit der stumpfen Spitze des silbernen Papiermessers. Es sieht aus, als schriebe er etwas. Buchstabe für Buchstabe. Wie Hieroglyphen. Auf seiner Haut bleiben Zeichen zurück, die dann wie magische Buchstaben verschwinden. Er schreibt und schreibt und schreibt und schreibt und schreibt. Da ist kein Geräusch, keine Stimme, nichts. Eine endlose Zeit vergeht.
    Dann legt Mr. Rail das Papiermesser aus der Hand und sagt:
    »Einmal … ein paar Tage, bevor er starb … habe ich Mormy gesehen … ich habe meinen Sohn Mormy gesehen, wie er mit Jun schlief.«
    Schweigen.
    »Sie lag auf ihm … sie bewegte sich langsam, und sie war wunderschön.«
    Schweigen.
    Am nächsten Tag fuhr Hector Horeau ab. Mr. Rail schenkte ihm ein silbernes Papiermesser. Sie sollten sich nie wiedersehen.

3
     
    Du Teufelskerl von einem Pekisch, 
    wie soll ich Dir nur klarmachen, daß Du aufhören sollst, mir Deine Briefe an Mr. Ives zu schicken? Ich habe Dir wieder und wieder geschrieben, daß ich da nicht mehr wohne. Ich habe geheiratet, Pekisch, willst Du das bitte zur Kenntnis nehmen? Ich habe eine Frau, und ich werde, so Gott will, bald ein Kind haben. Und vor allem WOHNE ICH NICHT MEHR BEI MR. IVES! Doras Papa hat uns ein einstöckiges Haus geschenkt, und genau dort möchte ich Deine Briefe erhalten, zumal ich Dir die Adresse schon hundertmal geschrieben habe. Mit anderen Worten: Mr. Ives verliert langsam die Geduld. Und obendrein wohnt er am anderen Ende der Stadt. Ich muß jedesmal eine halbe Weltreise machen. Außerdem weiß ich genau, warum Du so hartnäckig darauf bestehst, sie dahin zu schicken, und offen gesagt ist es gerade das, was mich um den Verstand bringt, denn diesen

Weitere Kostenlose Bücher