Land der Erinnerung
fünfhundert Jahren bewegte sich Europa dem Untergang entgegen. Sogar Nostradamus kann nicht weit über die Jahrhunderte hinaussehen. In diesem Millennium hat Europa der Welt eine glänzende Sternenkette von Genies geschenkt, die über die ganze Welt auch dann ihr Licht werfen werden, wenn sich Dunkelheit auf das Land legt. Viele von ihnen wuchsen in Frankreich auf oder fanden in Frankreich Heimat oder Zuflucht. Wenn man durch das Gebiet der Loire-Schlösser reist, wird man an Leonardo da Vinci erinnert, der dort die letzten Jahre seines Lebens verbrachte; im Süden wird man an Dante gemahnt, der dort (in Les Baux) eine Eingebung hatte, die sich in seiner Beschreibung des Infernos niederschlagen sollte. In der Vaucluse ist es Petrarca. Man könnte zahllose Beispiele für die Wichtigkeit und den Einfluß Frankreichs während der letzten zehn Jahrhunderte nennen!
Wenn man die Straßen von Paris durchwandert, wird man von Buchhandlungen und Kunstgalerien unaufhörlich an das Erbe der Vergangenheit und an das Fieber der Gegenwart erinnert. Ein zielloser Bummel durch ein einziges kleines quartier genügt oft, einen solchen Überfluß an Empfindungen wachzurufen, daß man vor lauter sich widerstreitenden Einfällen und Wünschen gelähmt ist. In Paris braucht man keine künstlichen Anregungsmittel, um schöpferisch zu sein. Die Atmosphäre ist mit Schöpfung gesättigt. Man muß aufpassen, daß man nicht übermäßig angeregt wird. Nach einem Arbeitstag kann man jederzeit Erholung finden. Sie kostet beinahe nichts, nur den Preis eines Kaffees. Einfach dazusitzen und die vorbeiströmende Menge zu betrachten, ist eine Art der Erholung, die in Amerika fast unbekannt ist.
‹La Mort et résurrection d'amour› schon der Titel ist von großer Bedeutung. Er setzt voraus, daß es einmal eine Welt der Liebe gegeben haben muß. Und mit Liebe meine ich LIEBE. Ja, es gab eine Zeit, da Leidenschaft regierte, die Leidenschaft des Kopfes und die Leidenschaft des Herzens. Und Leidenschaft bedeutet Leiden, symbolisiert in der Geschichte des Kreuzes. Liebe, Leidenschaft, Leiden: in dieser Dreieinheit ist die treibende Kraft Europas auf die Formel gebracht. Nur im Namen dieser Dreieinheit können wir die großen Entdeckungen, die großen Erfindungen, die großen Pilgerfahrten, die großen Taten und die großen Philosophien der westlichen Welt erklären. Nichts fiel den Menschen Europas in den Schoß. Die begabtesten unter ihnen waren gewöhnlich jene, die die größten Kämpfe durchstehen mußten.
Die Auferstehung der Liebe! Ich glaube, das habe ich während meines Aufenthaltes in Europa tiefer als alles andere empfunden. Da ich aus einer Welt kam, in der alles, was mit Seele zu tun hat, abgetötet war, hatte sogar eine billige Postkarte etwas an sich, was meine Gefühle weckte. Bäumen galt immer meine Aufmerksamkeit - und der Sorgfalt, die aufgewendet wurde, sie zu erhalten. Ich sammelte die kleinen Speisekarten, die jeden Tag mit der Hand geschrieben werden. Ich verehrte die Serviererinnen, obwohl sie oft schlampig und schlecht gelaunt waren. Polizisten nachts paarweise auf dem Fahrrad patrouillieren zu sehen, ließ mir Wonneschauer den Rücken hinunterlaufen. Ich war entzückt von den Flicken in den alten Teppichen, die die ausgetretenen Treppen der billigen Hôtels bedeckten. Die Art, wie der Straßenkehrer zu Werk ging, faszinierte mich. Die Gesichter der Leute in der Metro hörten nie auf, mich zu fesseln, ebenso wie ihre Gesten und ihre Gespräche. Die Ordnung, die in den Bars herrschte, die zuverlässige Art, in der die Hausangestellten ihren Pflichten nachkamen, die Gewandtheit und Ausdauer der garçons in den Cafés, die Unordnung und das Durcheinander auf dem Postamt, die Atmosphäre der salle des pas perdus in den Bahnhöfen, die aufreibende Paragraphenreiterei im bürokratischen Herrschaftsbereich, das billige Papier, auf dem die ungewöhnlichen Bücher gedruckt waren, das schöne Schreibpapier, das in den Cafés gratis serviert wird, die kuriosen Namen von Schriftstellern und Künstlern aller Gattungen, die Art, wie das Gemüse in den Straßen aufgeschichtet wurde, die Jahrmärkte und Karnevals, die ständig umgehen, der ranzige Gestank der Vorstadtkinos im Winter, die Eleganz, die Erster-Klasse-Züge umgab, das Aussehen des abendlichen Speisewagens auf einer der großen Durchgangslinien, der fast zu gepflegte Anblick, den die Stadtparks boten, das Anfühlen von Kleingeld und die Schönheit einer Tausend-Francs-Note (die
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