Land der Erinnerung
besucht habe. «Fahren Sie hin, sobald Sie können», drängte er, «Sie werden es nie bereuen.» Und jetzt fahre ich nach dem Toulouse des Toulouse-Lautrec. Gleich werden Albi, Agen, Tarbes, Cahors, Cordes im Geiste vor mir erstehen, lauter Orte, die ich auf früheren Ausflügen in den Süden übersprungen hatte. Um jeden Namen weben sich Geschichten, die mir von Mitreisenden erzählt wurden, ganz zu schweigen von den verwickelten Fäden der Geschichte und Legende.
Während ich so nachsinne, finde ich mich wieder in Paris, an der place Dancourt. Ich nehme meinen alten Lehrer mit, um ihm ‹Dommage qu'elle soit putain!› zu zeigen. Ich habe es schon einmal in ein und demselben Théâtre de l'Atelier gesehen. Ich gehe nochmals, weil es für Lantelme, der in diesen Tagen selten irgendwohin kommt, ein Vergnügen sein wird. Hauptsächlich aber gehe ich, um meinen Augen ein Fest zu bereiten. Die Darstellerin der Hauptrolle hat mich verzaubert. Noch nie habe ich eine Stimme wie die ihre gehört. Es ist die Stimme einer Drossel aus den Pripet-Sümpfen. (Wie kommt es nur, daß ich ihren Namen vergessen habe, der meinen Lippen doch so vertraut war wie der von Edwige Feuillère oder Marcelle Chantal?) Sie ist nicht nur schön, sie ist anmutig. Anmutig und schön. Sie hätte eine der großen französischen Schauspielerinnen werden sollen. Vielleicht wurde sie es auch. (Ich versuche noch immer, mich an ihren Namen zu erinnern. Alles, was ich aus den Tiefen heraufholen kann, ist: Levallois-Perret und Draguignan. [1] Was an ihrem Spiel für mich unvergeßlich ist, ist die Art, wie sie sich rückwärts und vorwärts über die Bühne schleifen ließ. An den Haaren, darunter tat sie's nicht! Rückwärts und vorwärts, über die ganze Länge der Bühne. Und diese schönen goldenen Locken, die über ihr tränenüberströmtes Gesicht fielen . . .
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Wer ‹Nadja› gelesen hat, wird sich gewiß jener wunderbaren Galerien der Erinnerung entsinnen, die Breton entriegelt, wenn er langsam zu erzählen beginnt. Wer könnte jene völlig irre Aufführung vergessen, über die er sich bei der Beschreibung seines Besuches im Théâtre des Deux-Masques des längeren ausläßt? Bei dem Stück handelt es sich um ‹ LesDétraqueés› . Eine der Personen ist eine Mademoiselle Solange. Der Seite 58 gegenüber, in einem der seltsamsten Büchlein, die in unserer Zeit erschienen sind, findet sich eine von Henri Manuel aufgenommene Fotografie (und dazu noch eine schlechte). Darunter heißt es: «L'enfant de tout â l'heure entre sans dire mot.» Diese Zeile, zusammen mit anderen (ohne Zweifel absichtlich verwendeten) kitschigen Fotografien und Reproduktionen von Nadjas Skizzen, begleiten mich auf meiner Reise in den Süden. (Eine der aufregendsten, unheimlichsten dieser Schwarz-Weiß-Reproduktionen, die mit einem Text, so fahrig wie der Schweif eines Kometen, wetteifern, heißt: ‹La Profanation de l'hostie› . Noch nie befand sich Uccello in so gespenstischer Gesellschaft.)
Genauso wie ich mich nach fünfzehn Jahren an den Rat des Mannes in der Bibliothèque Nationale erinnere, vielleicht weil es meine erste längere Unterhaltung auf französisch war, so kommt mir von Zeit zu Zeit die höchst erstaunliche, höchst phantastische Beschreibung von Blanche Dervals Spiel in ‹Les Détraquées› in den Sinn. Warum? Weil die erste Arbeit, die ich je einem Verleger unterbreitete, eine wilde, unausgegorene und absolut unverständliche Schilderung des Augenblicks war, da ich, in ein Vaudeville-Theater eintretend, gerade als der Vorhang sich hob, eine Frau erblickte, die eine breite Treppe mit einer Marmorbalustrade hinaufstieg. In jenem Augenblick war ich gespalten und sah mit zwei verschiedenen Augen, wobei die innere Vision zur äußern paßte und sich mit ihr in unglaublicher Harmonie und Logik vermischte. Zu meinem Erstaunen brachte mir die Arbeit eine Ermutigung des Herausgebers, Francis Hackett, ein. Es war ein kurzer, herzlieber Brief, der mich in zehn Jahren niederdrückenden Versagens aufrechthielt. . . Und jetzt bin ich in Frankreich und lese das Buch eines Mannes, dessen dichterische Begabung ich immer bewundern werde, und die Beschreibung seines Besuchs im Thèâtre des Deux-Masques scheint jener ersten Arbeit, die ich zur Veröffentlichung einreichte, verblüffend ähnlich. Die von Breton ist natürlich unendlich viel besser. Doch was wäre wohl aus ‹Nadja› geworden, so frage ich mich, wenn Breton sie einem amerikanischen Verleger hätte
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