Land der Erinnerung
der auch der wahre Sitz des Widerstandes ist, zugrunde liegt. Es waren Arme im Geiste, die sich eine Maginotlinie ausdachten. Die Künstler sind nicht von dieser Art. Sie sind, wie man uns schon sooft versichert hat, die ewig Jungen. Sie verbünden sich mit allem, was überdauert, mit dem, was selbst über Niederlagen triumphiert. Der Künstler leistet dem Geist der Zeit nicht Widerstand, er ist ein Teil von ihm. Der Künstler ist kein Revolutionär, er ist Rebell. Der Künstler hungert nicht nach Erfahrung um der Erfahrung willen, sondern nur sofern sie seiner Einbildungskraft dient. Der Künstler weiht sich nicht der Erhaltung seines Landes, sondern der Erhaltung dessen, was menschlich ist. Er ist das Bindeglied zwischen dem Menschen von heute und dem Menschen der Zukunft. Er ist die Brücke, über die die Menschheit schreiten muß, ehe sie in das Himmelreich treten kann. Dürfen wir von ihm, der Zutritt zum Paradiese hat, sagen, er tauge zu nichts, wenn er sich nicht freiwillig erschlagen ließe? Wo sollen wir Zuflucht und Kraft finden, wenn nicht bei denen, die ihr Leben der Entfaltung von Schönheit, Wahrheit und Liebe weihen?
Diese patriotischen Rächer, die so durstig und gierig auf die Vernichtung auch des allerletzten Menschen aus sind -auf was für einem Fundament hoffen sie aufbauen zu können? Auf Blut und Sand? Jede Generation steht inmitten von Ruinen, Ruinen, die von Blut dampfen. Jede Generation versucht Ordnung herzustellen, in Frieden zu arbeiten, aus Todesqualen Musik zu schaffen. Manche geben vor, in diesem ständigen Drama von Mißerfolg und Enttäuschung eine abstrakte geschichtliche Entwicklung zu sehen. Sie fordern uns auf, über das vergossene Blut hinwegzusehen. Sie verlangen von uns, die Ohren zu verstopfen, wenn wir uns winden vor Qual ob der Schreie der Verwundeten und Verstümmelten. Sie lesen in den blutigen Fußspuren Molochs Fortschritt und Entwicklung. Sie heiligen die Opfer, die dieser unersättliche Gott der Geschichte ohne Unterlaß fordert. Sie brüllen vor Entrüstung, wenn man diese Lebensanschauung abergläubisch nennt. Wir wissen, was die Wirklichkeit ausmacht, sagen sie. Wir haben den Finger am Puls des Lebens. Es verhält sich so und nicht anders, weil es sich so und nicht anders verhalten muß. Logik! Die Logik des Erdenwurms.
Nein, ich bin glücklich, sagen zu können, daß dies nicht die Ansicht des schöpferischen Geistes ist. Die Verteidiger des Lebens haben keine so scharf geschliffene Logik zur Verfügung. Sie sind keine Opfer des Denkens, sie sind die Erwecker von Weisheit und Gerechtigkeit. Sie sprechen nicht vom Frieden und fahren gleichzeitig fort, neue und noch verheerendere Zerstörungswaffen zu bauen. Sie gehen ihren vorbestimmten Weg ‹ohne Rücksicht› auf den Zustand der Welt.
Vielleicht können wir besser verstehen, wozu sich diese Anhänger des Lebens bekennen, wenn wir die schlichten Worte des jungen Alain-Fournier noch einmal lesen, der sich, des Kampfes müde, zum Opfer auf dem Schlachtfeld darbot: «Je dis que la sagesse est de renoncer ä sa pensée, aux châteaux de cartes de sa pensée, et de s'abandonner à la vie. La vie est contradictoire, ondoyante - pourtant enivrante - et pourtant là où elle nous mène est le vrai.»
Heute morgen erwachte ich inmitten einer Traumlandschaft. Ich hörte den Schaffner «Châtellerault» rufen - oder war es «Châtelleroux»? Das hieß, daß ich wieder auf dem Weg nach Süden war. Da war er auch schon, der Ton der kleinen Trompete, und dann eine Stimme, die brüllte: «En voiture! En voiture!» Bald rumpelt und schaukelt der gebrechliche Wagen auf dem Schmalspurgleis. Es ist ein rapide, was nicht heißt, daß es ein Expreßzug ist. In der Nacht jedoch fliegt er wie der Wind. In einem französischen Zug habe ich immer den Eindruck, er sei das schnellste Ding auf Rädern.
Auf der Reise nach Süden fliegen meine Gedanken nach Norden, Osten und Westen. All die Orte, die ich irgendwann einmal besuchen wollte, kommen mir in den Sinn. Gerade jetzt träume ich von Provins. (War es nicht Balzac, der sagte, Provins sei von allen Orten, die er gesehen habe, dem Paradies am nächsten?) Eines Tages, kurz nach meiner Ankunft in Paris, war ich in die Bibliothèque Nationale gegangen und hatte in meinem lahmen Französisch gefragt, ob ich mir die wunderbaren Schachfiguren aus der Zeit Karls des Großen ansehen dürfe. Nach einer bezaubernden Unterhaltung mit einem der Direktoren fragte der Mann, ob ich je Provins
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