Land der Erinnerung
unduldsam und genauso engherzig wie der protestantische Amerikaner. Man versuche einmal, sich einen katholischen amerikanischen Schriftsteller vorzustellen, der über den Schwung, den Reichtum, die Sinnlichkeit von Männern wie Claudel und Mauriac verfügte. Es gibt keinen.
Frankreichs Tugend besteht darin, daß es seine Katholiken katholisch gemacht hat. Es hat sogar seine Atheisten katholisch gemacht, und das will viel heißen. Ganz, universell machend, alles einbegreifend: das ist der ursprüngliche Sinn von ‹katholisch›. Es ist die Haltung, die der Heiler einnimmt. Diese umfassendere Bedeutung des Wortes ist etwas, worauf sich die Franzosen als Volk par excellence verstehen. In einer katholischen Welt leben die Kleinen und Großen Seite an Seite, ebenso wie die Vernünftigen und die Wahnsinnigen, die Kranken und die Gesunden, die Starken und die Schwachen. Nur in einer solchen Welt kann sich wahre Individualität behaupten. Man denke nur an die Verschiedenheit der Typen, die allein schon unter den Schriftstellern Frankreichs herrscht - heute wie in jeder Epoche der Vergangenheit. Ich kenne nichts, was dem gleichkäme. Tatsächlich besteht ein größerer Unterschied zwischen den einzelnen französischen Schriftstellern, als zwischen einem deutschen und einem französischen. Man könnte sagen, daß es zwischen Dostojevskij und Proust mehr Gemeinsames gebe als zwischen Celine und Breton oder zwischen Gide und Jules Romains. Und doch gibt es einen Faden, einen zähen und ungebrochenen, der so einmalige Schriftsteller wie Villon, Abélard, Rabelais, Pascal, Rousseau, Bossuet, Racine, Baudelaire, Hugo, Balzac, Montaigne, Lautreamont, Rimbaud, Nerval, Dujardin, Mallarmé, Proust, Mauriac, Verlaine, Jules Laforgue, Roger Martin du Card, Duhamel, Breton, Gide, Stendhal, Voltaire, Sade, Léon Daudet, Paul Eluard, Blaise Cendrars, Joseph Delteil, Péguy, Giraudoux, Paul Valery, Francis Jammes, Elie Faure, Céline, Giono, Francis Carco, Jules Romains, Léon Bloy, Supervielle, Saint-Exupéry, Jean-Paul Sartre verbindet, um nur einige wenige zu nennen. Die Homogenität französischer Kunst hat ihren Ursprung nicht in der Einförmigkeit der Gedanken oder der Umgebung, sondern in der unendlichen Vielfalt des Bodens, des Klimas, der Landschaft, der Sprache, der Bräuche und des Blutes. Jede Provinz Frankreichs hat ihren Beitrag zur Schöpfung seiner Kultur geleistet.
Was die Franzosen mehr als alles andere verbindet, ist die Liebe zur Erde. Jakob Wassermann hat in seinem Buch ‹Mein Weg als Deutscher und Jude› auf die Beziehung zwischen dem Stil eines Schriftstellers und der Landschaft, in die er hineingeboren wurde oder die er sich zur Heimat gewählt hat, hingewiesen.
Jede Landschaft, schreibt er, die irgendwie ein Teil unseres Schicksals wird, erzeugt einen bestimmten Rhythmus in uns, einen Rhythmus des Fühlens und des Denkens, der meistens unbewußt bleibt und darum nur um so einschneidender wirkt. Es sollte möglich sein, aus dem Satzbau der Prosa eines Schriftstellers die Landschaft zu erkennen, die sie verbirgt, wie eine Frucht ihren Kern verbirgt... Die Landschaft, in der jemand lebt, gibt nicht nur den Rahmen des Bildes; sie durchdringt sein ganzes Wesen und wird ein Teil von ihm. Das kann natürlich bei Primitiven viel klarer gesehen werden als im Umkreis der Zivilisation. Darum spielten Flüsse, Wüsten, Oasen und Haine eine so wichtige Rolle bei der Entstehung von Mythen, die oft nur das Landschaftserlebnis einer langen Folge von Generationen darstellen . . . Persönlichkeit entsteht an der Stelle, wo das innere und das äußere Landschaftsbild aneinanderstoßen, wo das Mythische und Dauernde in begrenzte Zeit einströmen. Und jedes literarische Werk, jede Tat, jede Leistung ist das Ergebnis einer Verschmelzung von Greifbarem und Ungreifbarem, von innerer Schau und wirklichem Bild, von Idee und der tatsächlichen Situation, von VorstelI lung und Form. Das äußere Landschaftsbild der Welt braucht nicht mehr entdeckt zu werden, obschon sein Einfluß und seine Wirkung auf die Seele noch nicht voll erforscht sind. Doch die innere Landschaft des Menschen bleibt weithin terra incognita, und wenn es gilt, diese unbekannte Gegend zu erhellen, dann ist unsere sogenannte Psychologie nur ein bleiches Lämpchen.
Im Falle eines Schriftstellers wie Alain-Fournier, des Verfassers von ‹Der Große Kamerad› , wird die Genauigkeit von Wassermanns Beobachtung überzeugend sichtbar. Der Zauber, den dieses Buch noch immer
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