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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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setzen. Es war Tag, und so brannte natürlich kein Licht. Im Halbdunkel fand ich mich allmählich zurecht. Einige sorgfältig zerrissene Zeitungsblätter hingen am Haken. Ein gemütliches, kleines Örtchen, alles in allem, aber warum so beengt? Als ich aufstand, um meine Kleider zu ord-nen, sah ich plötzlich etwas, das mir den Atem verschlug. Von einem Ort aus, der ein wahres Verlies war, schaute ich auf einen der ältesten Teile von Paris hinunter. Der Anblick war so wunderbar sanft und berauschend, daß er mir Tränen in die Augen trieb. Welch ein glücklicher Zufall, dachte ich. Wenn ich nicht von jenem Bedürfnis überrascht worden wäre, hätte ich nie gewußt, daß es einen solchen Ausblick gab. Ich wollte hinunterlaufen und meine Frau holen, doch dann fiel mir ein, daß es einen eigenartigen Eindruck auf den Hotelbesitzer machen könnte. So stand ich da, betäubt, verloren in tiefer Trance. Ich blieb so lange und die Veränderung in meinem Gesicht war so groß, daß ich meine Frau, die während der ganzen Zeit an der Ecke gestanden hatte, in schlechter Laune fand: «Nur eine Frau kann dich so lange aufgehalten haben!» fauchte sie.
    Ich reagierte darauf mit so echter Verwirrung, daß sie sofort den Kurs änderte. «Hör zu», erklärte ich, «du mußt es selber sehen. Geh dort hinauf. Es ist im dritten Stock. Ich warte hier auf dich.» Folgsam zog sie ab, von meinem Ernst beeindruckt.
    Ich bezog meinen Posten an der Ecke; es war mir gleichgültig, wie lange ich dort blieb. Ich befand mich in halb bewußtlosem Zustand, und meine Augen waren immer noch glasig . . . Danach nahmen wir uns, sooft wir in die Nachbarschaft von Saint-Séverin kamen, jedesmal die Zeit, hinten im dritten Stock Pipi zu machen.
    Es gab so viele ähnliche Zwischenfälle, groteske, seltsame, mitleiderweckende, absurde. In Paris konnte einem alles mögliche passieren, wenn man fremd war. Wie könnte ich das blanke Erstaunen eines französischen Herrn vergessen, der sich in Paris nicht auskennt, mich anhält, um nach dem Weg zu fragen, und sich dann zu seinem Bestimmungsort, einige Häuserblocks weiter, von einem Mann eskortiert sieht, der kaum die Sprache spricht. Ich kann sehen, daß ihn meine rit-terliche Aufmerksamkeit verblüfft. Er ist zuerst ein wenig 58
    mißtrauisch; als er dann aber merkt, daß ich von ihm nichts verlange, verliert er auf liebenswürdige Weise seine Hem-mungen. Was hätte er wohl gedacht, wenn ich ihm verraten hätte, daß ich mir nur so viel Mühe machte, um das Vergnügen zu haben, ihn in seiner Sprache reden zu hören! Er hätte ohne Zweifel geglaubt, ich mache mich über ihn lustig. Wie dankbar war er für meine Besorgtheit! Es sei heutzutage ungewöhnlich, ließ er mich auf seine weitschweifige Art wissen, daß man bei einem Fremden solcher Höflichkeit begegne. Der Herr war Amerikaner? Dazu noch aus New York? Tiens, tiens!
    ( Incroyable! hat er ohne Zweifel vor sich hin gemurmelt.) Und der Herr findet Paris interessant? Vraiment ? Ah, es gab etwas an Paris, das alle Fremden anzog, surtout les Anglais . Die Amerikaner natürlich auch. (Ein nachträglicher Gedanke. Wie wenn einer sagt: «Les Allemands? ah oui, des boches! ») An ihn seien die Reize von Paris freilich verschwendet. Er sei nur ein commercant . Leider keine Zeit für Cabarets und Kunstgalerien. Pour les femmes non plus . . . Sogar ein Dummkopf wie ich konnte diese Art von Monolog verstehen. Es spielte für mich gar keine Rolle, worüber er zu sprechen beliebte; aufregend war für mich nur, daß ich den Sinn mitbekam.

    Er hatte mich natürlich für einen Touristen gehalten.
    Nie würde er vermutet haben, daß ich beim Abschied all meinen Mut zusammenkratzte, ihn um ein paar Francs anzugehen.
    Ich tat es natürlich nicht. Ich konnte es nicht, bei dem Dankes-schauer, der auf mich niederging. Ich mußte die Rolle des chevaleresque flâneur , die er mir zudachte, weiterspielen. Ich weiß noch genau, wie ich ihn verließ, das Gesicht zu einem Lächeln verzerrt, und geradewegs auf eine Bank zusteuerte, auf der ein Arbeiter saß, der sein Mittagessen ausgebreitet und eine Flasche Wein neben sich stehen hatte. «Jetzt pfeife ich eine andere Melodie!» sagte ich mir. Ich hatte seit sechsunddreißig Stunden nichts gegessen . . .

    Ein Gedicht, das mich nicht losläßt und das ich mit dem besten Willen nicht übersetzen kann, ist Rimbauds ‹Depart› . «Assez vu. La vision s'est rencontrée à tous les airs.» Man übertrage diesen ersten Vers ins

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