Land der Erinnerung
zu ihm auf den ersten Blick, wie einen mondsüchtigen Liebhaber. Ich schloß ihn ins Herz, noch ehe ich ihn verstand. Ist es wirklich nötig, solche Dinge zu erklären? Wie kann ich den Skeptiker davon überzeugen, daß ich von Cendrars' ‹Moravagine› hinge-61
rissen war, trotz der Tatsache, daß ich fast jedes zweite Wort im Wörterbuch nachschlagen mußte? Wie kommt es, daß man sofort weiß, ob einem etwas nach dem Herzen ist? Warum bin ich trotz der Bekundungen der besten Kritiker immer noch unfähig, Stendhal oder Sterne oder sogar Homer zu lesen?
Warum versuche ich immer und immer wieder, den Marquis de Sade zu lesen, obwohl ich weiß, daß meine Bemühungen jedesmal im Sand verlaufen werden? Aus irgendeinem unerklärlichen Grund glaube ich alles, was man an Gutem über de Sade sagt. So ist es auch bei Francis Bacon, einem anderen, den ich schwer verdaulich finde. Was ich sagen will, ist, daß es Menschen gibt, die dich zwingen, sie zu bejahen, dich zwingen, sie zu verstehen und schließlich zu verehren.
Bei Rimbaud gibt es nur die unmittelbare Begegnung oder nichts. Er spricht eine Sprache, für die keine Wörterbücher Hilfe bieten. Nicht Französisch muß man können, sondern die vergessene Sprache des Dichters. Rimbaud ist der letzte der Reihe und der erste einer neuen Ordnung, für die es keinen Namen gibt. Unter all den glitzernden Sternbildern der französischen Schriftsteller muß ich ihn wählen, einen neuen Stern, eine Nova. Daß er auch ein voyou war, was geht mich das an? Spielt das eine Rolle für mich? Villon war ein ‹Gal-genvogel›, Baudelaire ein ‹Degenerierter›, de Sade ein ‹Ungeheuer›. Ich wähle Rimbaud, weil ich durch ihn, durch seinen Bruch mit dem ganzen Bau, Frankreich am besten verstehe.
Mit seinen eigenen jugendlichen Händen schuf er ein Standbild, so dauerhaft wie die großen Kathedralen, ein Werk, das allen Mißhandlungen spottet.
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Als ich eines regnerischen Abends auf der rue De-
lambre Alfred Perlès über den Weg lief, begann eine Freundschaft, die die ganze Zeit meines Frankreich-Aufenthaltes prägen sollte. In ihm fand ich den Freund; der mir in allem Auf und Ab eine Stütze wurde. Er hatte etwas von einem voyou an sich, um es gleich zu sagen. Ich muß gestehen, daß ich versucht bin, seine Schwächen zu übertreiben. Er hatte jedoch eine Tugend, die alle seine Schwächen aufwog: er verstand es, ein Freund zu sein. Manchmal schien es mir wirklich so, als verstehe er sich auf nichts anderes. Sein ganzes Leben schien auf die Grundtatsache zugeschnitten zu sein, daß er nicht nur mein Freund, dein Freund, ein Freund, sondern der Freund war. Er war zu allem bereit, wenn es nötig schien, seine Freundschaft unter Beweis zu stellen. Ich sage: zu allem.
Fred war die Art von Mensch, nach der ich unbewußt mein ganzes Leben Ausschau gehalten hatte. Mich hatte es von Brooklyn, ihn von Wien nach Paris gezogen. Wir hatten die Schule der Not längst durchlaufen, ehe wir nach Paris kamen. Wir waren Veteranen der Straße, kannten alle Tricks, die einen Menschen über Wasser halten, wenn alle Mittel erschöpft scheinen. Obwohl ein Gauner, ein Nichtsnutz und Possenreißer, war er doch äußerst empfindsam. Sein Zartge-fühl, das sich bei den unpassendsten Gelegenheiten zeigte, war außerordentlich. Er konnte grob, unverschämt und feige sein, ohne sich selbst dadurch im geringsten herabzusetzen. Oder vielmehr, er setzte sich absichtlich herab; das erlaubte ihm, sich alle möglichen Freiheiten herauszunehmen. Er gab vor, nur das zum Leben Allernotwendigste zu brauchen; aber er war ein Aristokrat in Dingen des Geschmacks und ein verwöhnter Fratz bis auf die Knochen.
Dieses Potpourri von guten und schlechten Zügen
schien ihn bei fast jedem beliebt zu machen. Von Frauen ließ er sich wie ein Schoßhund behandeln, wenn ihnen das Freude machte. Er tat alles, was sie von ihm verlangten, solange er 63
nur auf seine Kosten kam. Was natürlich hieß, solange er sie ins Bett kriegte. Wenn man sein Freund war, teilte er seine Frauen mit einem, genau wie er die letzte Brotrinde mit einem geteilt hätte. Manche Leute konnten ihm dies nur schwer ver-zeihen, diese Fähigkeit, alles zu teilen. Natürlich erwartete er von anderen das gleiche. Wenn sie sich weigerten, war er er-barmungslos. Hatte er einmal gegen jemanden eine Abneigung gefaßt, konnte ihn nichts mehr davon abbringen. Hatte er sich über jemanden eine Meinung gebildet, änderte er sie nie mehr.
Man war entweder
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