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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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fragte ich ihn. Er grinste. «Selbstverständlich; aber ich beherrsche mich.» Und dann zitierte er mir ein chinesisches Sprichwort vom Meister, der weiß, sich des Wunderwirkens zu enthalten.
    In seiner Brusttasche trug er natürlich immer ein Notizbuch mit sich herum. Bei der Arbeit machte er ohne Zweifel mit seinem makellosen Füllhalter Notizen oder er fuhr fort, wo er aufgehört hatte (Seite zwei unten).

    Es war typisch für ihn, daß er den Eindruck erweckte, alles falle ihm leicht. Sogar das Schreiben. «Streng dich nicht zu sehr an», war sein Motto. Mit anderen Worten: «Leichtig-keit macht es.» Wenn man ihn bei der Arbeit störte, war er in keiner Weise verärgert. Im Gegenteil: er stand lächelnd auf und bat einen, zu bleiben und mit ihm zu plaudern. Immer gelassen, als gäbe es nichts, was sein Tun oder Denken wirklich unterbrechen konnte. Gleichzeitig achtete er darauf, andere nicht zu belästigen. Es sei denn, er war schlecht gelaunt.
    Dann platzte er bei mir oder sonstwem herein und erklärte:
    «Laß liegen, was du da machst; ich will mit dir reden. Wir gehen irgendwohin und trinken was, ja? Ich kann heute nicht arbeiten. Du solltest auch nicht arbeiten; es ist zu schön, und das Leben ist zu kurz.» Vielleicht hatte er auch gerade gefallen an einem Mädchen gefunden und brauchte Geld. «Du mußt mir helfen, etwas Kies aufzutreiben», sagte er dann. «Ich habe ihr versprochen, sie Punkt halb sechs zu treffen. Es ist wichtig.» Das hieß, ich sollte losziehen und jemanden anpumpen.
    Ich kenne viele Amerikaner, meinte er, und Amerikaner hatten immer irgendwo Geld versteckt. «Genier dich nicht», sagte er in solchen Fällen. «Hol hundert Francs raus, wenn du schon mal dabei bist, oder dreihundert. Bald ist Zahltag.»

    Am Zahltag schienen wir immer am meisten pleite zu sein. Alles ging für Schulden drauf. Wir gönnten uns ein gutes Essen und vertrauten auf die Vorsehung, daß sie uns den nächsten Zahltag erleben lasse. Wir mußten diese kleinen 68
    Schulden bezahlen, da wir sonst keinen Kredit mehr bekommen hätten. Aber beim Essen wurden wir manchmal ein biß-
    chen leichtsinnig und beschlossen, fünfe gerade sein zu lassen.
    Wir leisteten uns was und fragten uns, wie wir am nächsten Tag dafür aufkommen könnten. Oft tauchte im allerletzten Augenblick ein Fremder auf, einer jener alten Freunde aus Amerika, der die Sehenswürdigkeiten besichtigen wollte. Wir verwalteten für diese Besucher aus Amerika das Geld, «damit sie nicht betrogen würden». So brachten wir, zusätzlich zu kleinen Darlehen, insgeheim noch ein wenig auf die Seite.

    Hin und wieder tauchte auch ein alter Freund von ihm auf, einer, den er aus Italien, Jugoslawien, Prag, Berlin, Mal-lorca oder Marokko kannte. Erst dann erfuhr man, daß die erstaunlichen Geschichten, die er im Zustand der Be-trunkenheit zu erfinden schien, auf Tatsachen beruhten. Er war keiner von denen, die mit ihren Reisen oder Abenteuern prah-len. Gewöhnlich war er schüchtern und zurückhaltend, was seine persönlichen Erlebnisse betraf; nur betrunken gab er einige Kostproben aus der Vergangenheit zum besten. Und dann war es, als erzähle er von einem anderen, einem, den er gekannt und mit sich identifiziert hatte.

    Eines Tages tauchte ein österreichischer Freund von Gott-weiß-woher auf. Er war physisch und psychisch völlig herun-tergekommen. Bei einem guten Essen gestand er, daß er von der Polizei gesucht werde. Wir hielten ihn etwa zwei Monate versteckt und ließen ihn nur nachts in Begleitung von Fred oder mir aus dem Hause. Es war für uns drei eine herrliche Zeit. Ich erhielt nicht nur Einblick in Freds Vergangenheit, sondern auch in meine eigene. Wir wohnten damals in Clichy, nicht weit von Célines berühmter Klinik. Ein paar Häuserblocks weiter war ein Friedhof, zu dem wir uns abends bega-ben, immer auf der Hut vor agents .

    Nach einer WeIle hatte Erich, unser Gast, genug vom Lesen und flehte uns an, ihm eine Beschäftigung zu ver-schaffen. Ich steckte zu jener Zeit tief im Proust. Ich hatte in
    ‹Die Entflohene› ganze Seiten angestrichen, die er gern auf der Schreibmaschine abschreiben wollte. Jeden Tag lag ein frischer Stoß von Auszügen auf meinem Tisch. Ich werde nie 69
    vergessen, wie dankbar er dafür war, daß ich ihm diese Arbeit übertragen hatte. Als er damit fast fertig war, bat ich ihn, da ich bemerkt hatte, daß er völlig in dem Text aufgegangen war, mir seine Beobachtungen viva voce mitzuteilen. Ich war so angetan von

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