Land der Erinnerung
vorher und nachher stehen die Dinge schlecht.
Krieg ist eine gute Zeit für Burschen wie uns. Du wirst es sehen.»
Fred hatte die letzten Jahre des Ersten Weltkriegs in einer Irrenanstalt zugebracht. Anscheinend hatte es ihm keinen großen Schaden zugefügt. Er war in Sicherheit, wie man so 77
sagt. Sobald sich die Tore öffneten, flog er aus, frei wie ein Vogel, in Richtung auf Paris. Er mag eine Zeitlang in Berlin und Prag gelebt haben, bevor er Paris erreichte. Ich glaube, er war auch in Kopenhagen und Amsterdam. Als wir in Paris zusammentrafen, waren die Erinnerungen an seine Wander-schaft verblaßt. Sogar Italien, Jugoslawien, Nordafrika, diese neueren Abenteuer, hatten ihre Umrisse verloren. Von all diesen Wanderungen ist mir deutlich in Erinnerung geblieben, daß er überall hungerte. Er schien nie die Anzahl der Tage zu vergessen, an denen er an einem bestimmten Ort hintereinan-der nichts zu Essen gehabt hatte. Da meine eigenen Wanderungen von den gleichen Nöten gezeichnet waren, fand ich an den düsteren Berichten, die er hin und wieder zum Besten gab, Geschmack. In der Regel wurden diese Erinnerungen geweckt, wenn wir unsere Gürtel enger schnallten. Ich erinnere mich an einen solchen Fall in der Villa Seurat, wo ich mich einmal nach achtundvierzig Stunden ohne einen Bissen auf die Couch warf und erklärte, dort liegen bleiben zu wollen, bis ein Wunder geschehe. «Das kannst du nicht machen», sagte er, einen Ton ungewohnter Verzweiflung in der Stimme. «Das ist genau das, was ich einmal in Rom gemacht habe. Ich wäre fast gestorben. Zehn Tage lang kam kein Mensch.» Das gab ihm den Anstoß. Er redete so viel von längerem und ungewolltem Fas-ten, daß er mich zu Taten aufstachelte. Aus irgendeinem Grund hatten wir aufgehört, an die Möglichkeit eines Kredits zu denken. In den alten Tagen war das Pumpen leicht für mich gewesen, weil ich ahnungslos war und die Art der Franzosen nicht kannte. Aber irgendwie verlor ich, je länger ich in Paris lebte, immer mehr den Mut, einen Gastwirt um Kredit zu bit-ten. Der Krieg rückte immer näher; die Leute wurden immer nervöser. Schließlich, gegen das Ende zu, als man wußte, daß der Krieg nicht mehr abzuwenden sei, begannen sie aus sich herauszugehen. Es war jene Ausgelassenheit der letzten Minute, die anzeigt, daß das Faß zum Überlaufen voll ist.
Unsere Ausgelassenheit, die immer gleich geblieben war, kam aus der tiefen Überzeugung, daß die Welt nie ins Lot kommen würde. Wenigstens nicht für uns. Wir würden immer en marge leben und uns von den Brosamen, die vom Tische des Reichen fielen, mästen. Wir versuchten, ohne jene wesent-78
lichen Dinge auszukommen, in die der gewöhnliche Bürger verwickelt ist. Wir wollten keinen Besitz, keine Titel, keine Versprechen auf bessere Zustände in der Zukunft. «Von heut auf morgen» war unsere Devise. Um auf den Grund zu stoßen, brauchten wir nicht tief zu sinken. Überdies waren wir elas-tisch. Auf uns konnten keine sehr schlechten Nachrichten warten; wir hatten sie alle schon oft gehört. Wir waren sie gewohnt. Wir hielten immer Ausschau nach unerwarteten Glücksfällen. Wunder geschahen nicht ein- oder zweimal, sondern oft. Wir verließen uns auf die Vorsehung, wie ein Gangster sich auf sein Schießeisen verläßt. In unserem Herzen glaubten wir ehrlich, mit der Welt in Frieden zu leben. Wir handelten in gutem Glauben, auch wenn das für einige patriotische Seelen nach Hochverrat aussah. Heute kommt es mir merkwürdig vor, daß ich Durrell und Fred kurz nach der Kriegserklärung schrieb, ich sei überzeugt, daß sie es ohne einen Kratzer überstehen würden. Bei Edgar war ich nicht so sicher. Aber auch er hielt sich über Wasser. Was niemand voraussehen konnte, war, daß Edgar Freude am Krieg hatte!
Ich meine damit nicht, daß er an den Greueln Freude hatte; er genoß es, seine Neurose zu vergessen.
Sogar Reichel, der verloren schien, kam ungeschoren davon. All diese Männer - und ich sage das nicht, weil sie meine Freunde waren - alle waren saubere, ehrliche Seelen, innocents, wenn das Wort noch etwas bedeutet. Trotz der Knüffe, die ihnen das Schicksal verabfolgte, waren sie dazu bestimmt, unter einem Zaubersegen zu leben. Ihre Probleme waren nie die Probleme der Welt. Ihre Probleme reichten tiefer, viel tiefer. Abgesehen von dem ausgesprochen geselligen Durrell waren sie alle einsame Menschen. Reichel mehr als irgendeiner von den anderen, möchte ich sagen. Reichel lebte erschreckend abgesondert
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