Land der Erinnerung
Szene, in der wir vorgaben, zu stottern und zu stammeln, zu lispeln, reichlich zu schwitzen, mit kleinen Schrittchen zu trippeln, lächerliche Fragen zu stellen, uns tief in abstruse Probleme zu verwickeln und so weiter. Während solcher Sitzungen lachte sogar Edgar, bis ihm die Tränen über die Wangen rollten,
Wenn es in der Villa Seurat tatsächlich eine Gruppe gab, befand sie sich gegenüber, im Hause einer ausländischen Dame, die einmal die Woche eine Soiree gab. Dort konnte man alle intellektuellen Langweiler von Paris kennenlernen, Menschen aller Arten und Gattungen. Dann und wann, wenn wir Hunger hatten, gingen wir hin. Es gab immer übergenug zu essen und zu trinken, und die belegten Brötchen waren äußerst delikat. Manchmal wurde auch getanzt. Die ‹großen Geister› steckten dann die Köpfe zusammen, und die anderen ergingen sich. Der Gastgeberin schien es gleichgültig zu sein, was geschah. Alles, was sie verlangte, war, daß man sich amü-
sierte. Ihre Vorstellung von Sich-Amüsieren war recht simpel.
Solange man sich bewegte, sei es mit dem Mund oder mit den Füßen, glaubte sie, man amüsiere sich.
Das wirkliche Vergnügen begann, als sie wegen ir-
gendwelcher Verpflichtungen ins Ausland reiste und ihre Wohnung Fred übergab. Von da an gab es keine Soireen mehr, nur ununterbrochene Festlichkeiten von morgens bis abends.
Keller und Speisekammer waren bald geleert, die Möbel begannen auseinanderzufallen, kostbare Vasen füllten sich mit Zigaretten- und Zigarrenstummeln, die einen gemeinen Geruch verbreiteten, die Wasserleitungen funktionierten nicht mehr, das Klavier war stimm- und reparaturbedürftig, in die Teppiche waren Löcher gebrannt, das schmutzige Geschirr versperrte die ganze Küche - kurz, die ganze Wohnung geriet in ein heilloses Durcheinander. Zwei Tage und Nächte lang stand ein weiteres Klavier vor der Tür, mitten auf der Straße.
Es war abgeliefert worden, als wir eines Abends gerade beim Essen waren. Aus purem Blödsinn hatte Fred die Transportleu-te angewiesen, es im Freien stehen zu lassen, da wir es selbst hereinschleppen würden, sobald es uns paßte. Während des Essens noch erschienen der Mann und die Frau, denen das 74
Klavier gehörte. Sie waren natürlich entsetzt und hätten beinahe die Polizei geholt. Doch Fred seifte sie mit glatter Zunge ein, bearbeitete sie mit starken Getränken, bestand darauf, daß sie erst etwas äßen, und redete ihnen ein, daß alles in bester Ordnung sei. Dann begann es zu regnen. Wir gingen hinaus und klappten den Deckel des Klaviers zu. Es war ein großer Konzertflügel bester Marke, wenn ich mich recht erinnere.
Glücklicherweise mußte der Mann, der sich eben von einer Hämorrhoidenoperation erholte, nach Hause eIlen. Es war etwas danebengegangen: er konnte es weder sitzend noch stehend längere Zeit aushalten. Außerdem waren ihm die Geträn-ke zu Kopf gestiegen. Wir riefen ein Taxi, setzten die beiden rasch hinein und versprachen ihnen treuherzig, den Flügel unverzüglich ins Haus zu befördern. Eine Stunde später - mitt-lerweile waren wir beide ziemlich angeschlagen - setzten wir uns mitten auf die Straße, ließen den Regen auf die Tasten hämmern und gaben vor, ein Duett zu spielen. Der Lärm war grauenhaft. Fenster wurden aufgerissen und aus allen Richtun-gen Drohungen und Verwünschungen auf uns geschleudert.
Dann versuchten wir ein paar Freunde zu finden, die uns das verdammte Ding hineinschleppen halfen. Das dauerte wieder ein bis zwei Stunden. Schließlich waren unser sechs aus Lei-beskräften bemüht, das Ding durch den Hauseingang zu quet-schen. Es war nichts zu wollen. Das Klavier schien nur aus Beinen zu bestehen. Als wir dann endlich unser wahnwitziges Vorhaben aufgaben, blieb nichts anderes übrig, als das Klavier dort zu lassen, wo es war: kopfüber auf dem Bürgersteig. Dort blieb es weitere sechsunddreißig Stunden, während welcher Zeit wir verschiedene Besuche von der Polizei empfingen.
Mein Blick fällt auf ‹Le Quatuor en ré majeur› auf dem Bücherbord über meinem Ellbogen! Ich schlage es aufs Geratewohl auf und denke über diesen spaßigen Gefährten vergangener Tage nach. In wenigen ZeIlen entwirft er ein Porträt seiner selbst. Es scheint, verglichen mit dem obigen, äußerst treffend: «Je suis timide et d'humeur in égale», beginnt der Abschnitt. «Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. De brusques accès de melancolie et d'effrayants élans de joie alternent en moi sans transition aucune.
Weitere Kostenlose Bücher