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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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und allein. Aber gerade das machte es so wundervoll, wenn er einen Raum voller Leute betrat -
    oder vielmehr zu der Gesellschaft einiger ausgesuchter Freunde stieß. Sein Verlangen nach Kameradschaft und Gemeinschaft war so groß, daß es, wenn er eine Versammlung betrat, manchmal schien, als habe eine Bombe eingeschlagen.

    Nie werde ich jenen Weihnachtstag vergessen, den wir
    - Reichel, Fred und ich - miteinander verbrachten. Um Mittag 79
    herum tauchten sie auf und erwarteten selbstverständlich, daß ich Essen und Wein zur Hand hatte. Ich hatte nichts. Nichts als einen harten Brotkanten, an dem ich vor Überdruß nicht nagen mochte. Ach ja, ein Tropfen Wein war auch noch da - etwa ein Fünftel einer Literflasche. Das weiß ich noch genau, denn was mich später, nachdem sie gegangen waren, faszinierte, war der Gedanke, wie lange diese magere Portion Wein gereicht hatte.
    Ich erinnere mich auch ganz deutlich, daß der Brotkanten und die fast leere Flasche lange Zeit unberührt in der Mitte des Tisches standen. Vielleicht gerade weil es Weihnachten war, legten wir alle angesichts dieses Mangels an etwas Eßbarem eine ungewöhnliche Zurückhaltung an den Tag. Vielleicht war es auch, weil unsere Mägen leicht und die Zigaretten knapp waren, daß uns das Gespräch viel mehr befriedigte, als es das Füllen unserer Bäuche getan hätte. Der Brotkanten, der da die ganze Zeit vor unseren Augen lag, hatte Reichel zu einer Er-zählung über seine Gefängniserfahrungen angeregt. Es war eine lange Geschichte über seine Ungeschicklichkeit und Dummheit, wie er geschlagen und angeflucht worden war, weil er ein hoffnungsloser Idiot war. Es hatte einen großen Lärm über rechte und linke Hand gegeben, weil er nicht mehr gewußt hatte, welches seine rechte und welches seine linke Hand war. Wenn er eine Geschichte erzählte, spielte Reichel sie immer vor. Er ging im Zimmer auf und ab und führte seine dämliche Vergangenheit vor mit Bewegungen, die so grotesk, so kläglich waren, daß wir gleichzeitig lachten und weinten.
    Während er einen schmissigen Gruß vormachte, den sie ihm schließlich und endlich hatten beibringen können, nahm er plötzlich die Brotkruste wahr. Ohne in seiner Geschichte inne-zuhalten, brach er vorsichtig eine Ecke ab, goß sich einen Fin-gerhut voll Wein ein und tunkte das Brot gemächlich ein. Darauf taten Fred und ich das gleiche. Wir standen da, jeder mit einem winzigen Glas in der einen Hand und einem Stückchen Brot in der anderen. Ich erinnere mich lebhaft an diesen Augenblick: es ist, als ob wir kommunizieren, dachte ich im stillen. Genaugenommen war es tatsächlich die erste Kommunion, an der ich teilnahm. Ich glaube, wir haben das alle gespürt, wenn auch keiner etwas davon sagte. Wie dem auch sei, wir marschierten auf und ab, während die Geschichte sich weiter-80
    entwickelte, liefen uns ständig gegenseitig über den Weg, prallten zusammen und entschuldigten uns kurz, fuhren aber fort, auf und ab zu gehen und einander den Weg zu kreuzen.

    Gegen fünf am Nachmittag war immer noch ein Trop-
    fen Wein in der Flasche, immer noch ein winziges Stückchen Brot auf dem Tisch. Wir drei waren so klar im Kopf, so aufgeräumt, so fröhlich, wie man es nur sein kann. Wir hätten bis Mitternacht so weitergemacht, wäre nicht der unerwartete Besuch einer Engländerin und eines jungen Dichters dazwi-schengekommen. Nachdem die Förmlichkeiten erledigt waren, fragte ich sie unvermittelt, ob sie Geld bei sich hätten, und fügte sofort hinzu, daß wir etwas zu essen brauchten. Sie waren froh, uns helfen zu können. Wir gaben ihnen einen großen Korb und beauftragten sie, herbeizuschaffen, was sie nur könnten. Nach ungefähr einer halben Stunde kehrten sie zu-rück, beladen mit Eßwaren und Wein. Wir setzten uns und stürzten uns wie hungrige Wölfe darauf. Das kalte Huhn, das sie gekauft hatten, verschwand wie durch Zauberei. Der Käse, das Obst, das Brot spülten wir mit den vorzüglichsten Weinen hinunter. Die Art, wie wir die guten Weine hinunterstürzten, war wirklich ein Verbrechen. Fred war im Laufe des Schmau-ses natürlich ausgelassen und lustig geworden. Von jeder Flasche, die geöffnet wurde, schenkte er sich ein gutes Glas voll ein und goß es auf einmal die Kehle hinunter. Die Adern an seinen Schläfen traten hervor, seine Augen rollten, der Spei-chel tropfte ihm aus dem Mund. Reichel war verschwunden, oder vielleicht hatten wir ihn ausgesperrt. Unsere englischen Freunde nahmen alles mit Fassung

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