Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
Jahren…
Michael Peinkofer
Frühjahr 2007
Prolog
Es begann mit dem Eis.
Aus tiefen Gründen stieg es einst empor, genährt von den Wassern der Tiefe. Vom kalten Atem der Eisdrachen getrieben, drang es aus den Poren der Welt und erstickte das Leben. Seen und Flüsse gefroren, mächtige Gletscher wuchsen aus den Bergen herab und begruben die Täler und alles, was dort wuchs und gedieh. Die Tiere flohen nach Süden, ebenso wie die Menschen, die noch niedere Geschöpfe waren, von Instinkten getrieben und kaum der Sprache mächtig. Sie alle hatten der Gewalt des Eises nichts entgegenzusetzen. Das Land erstarrte und mit ihm alles Leben.
In diese kalte Welt traten die Kreaturen des Todes und der Finsternis: Einäugige gehörnte Riesen und ihre schweinsgesichtigen Helfer entstiegen finsteren Klüften und überschwemmten das ganze Land. Im Auftrag von Muortis, dem Herrscher des Eises, nahmen sie die Welt in Besitz und verbreiteten Angst und Schrecken – bis die Sylfen kamen.
Von den Gipfeln der Berge stiegen sie nach Mythenland herab, die Söhne des Sylfenkönigs Vanis und ihr Gefolge aus glorreichen Streitern. Vom fernen Reiche Ventar aus zogen sie nach Norden und drangen in das Land des Eises vor, und vor ihren Schwertern ergriffen selbst die Riesen und Eisdrachen die Flucht. Bündnisse wurden geschmiedet und Allianzen geschlossen. Ein jedes Volk – mit Ausnahme der Menschen, die noch jung waren und unmündig – musste entscheiden, auf welche Seite es sich stellen wollte: auf die der Söhne Ventars, die Licht und Wärme in die Welt trugen und das Eis vertreiben wollten – oder auf jene von Muortis und seinen finsteren Dienern.
Drachen und Riesen, Zwerge und Koblinge, Erle und Trolle – sie alle trafen ihre Entscheidung, und auf den eisbedeckten Gipfeln des Korin Nifol kam es zur letzten, entscheidenden Schlacht. Ein Jahr lang dauerten die Kämpfe, so wird erzählt, und wie es heißt, erzitterten in jenen Tagen die Berge unter dem Ansturm der feindlichen Heere und das Grundmeer färbte sich rot vom Blut der Erschlagenen. Nicht nur die Streiter des Lichts und der Finsternis, sondern auch die Elemente fochten gegeneinander – bis schließlich das Eis zu obsiegen drohte.
Die Zwerge, die den größten Blutzoll entrichtet hatten, ergriffen die Flucht, und nichts schien den Triumph Muortis’ und seiner Diener mehr aufhalten zu können. Aber dann, in der Stunde der größten Verzweiflung, als das Bündnis der Sylfen, Zwerge und Feuerdrachen zu scheitern drohte, nahm das Schicksal der Sterblichen eine Wendung.
Danaón, Vanis’ Sohn und Erbe der Macht, stieß in das Horn seines Vaters, und noch einmal erhob sich das Heer der freien Völker zum Sturm gegen Eis und Tod, und in einem letzten Kampf, in dem Danaón und viele andere Helden der alten Zeit ihr Ende fanden, gelang es, Muortis’ Horden zurückzutreiben in die finsteren Gründe, denen sie entstiegen waren.
Das Eis zerbrach, und das Heer des Bösen wurde hineingerissen in den dunklen Pfuhl von Urgulroth und vom Wasser verschlungen. Zurück blieben nur die Berge, als ewige Zeugen des Kampfes, der einst stattgefunden hatte.
Ein ganzes Zeitalter lang lebten Sylfen, Zwerge und Koblinge in Frieden, wachten gemeinsam über das Werden der Menschen, bis die Zeit der Sylfen zu Ende ging und sie zurückkehrten in ihr fernes Reich auf den Gipfeln…
All dies wusste Kaelor, der Letzte der Eisriesen und Herrscher über die Klüfte von Düsterfels, denn er war selbst dabei gewesen, als die Heere des Lichts und der Finsternis zum letzten Kampf aufeinander trafen. Durch das lange Leben, das seiner Art beschieden war, hatte Kaelor vieles kommen und gehen sehen. Er hatte den Beginn der Eiszeit erlebt und den Triumph des dunklen Herrschers – aber auch dessen Niedergang.
Nur wenige waren noch übrig, die sich daran erinnerten. Die Erle von Düsterfels waren dumme, einfältige Kreaturen, nicht mehr als Schatten jener grässlichen Krieger, die einst über das Angesicht der Welt marschierten. Aber sie hassten das Licht und die Wärme beinahe ebenso wie Kaelor selbst. Sie waren eifersüchtig auf die Menschen, die in der Obhut der Söhne Vanis’ herangewachsen waren, während sie selbst zu niederen Kreaturen verkamen. Und in ihrem Hass und ihrer Einfalt waren sie leicht zu beherrschen.
Lange gewartet hatte Kaelor, der sich zu ihrem Herrn und Meister aufgeschwungen hatte.
Jahrzehnte.
Jahrhunderte.
Jahrtausende.
Bis die Vergangenheit zur Legende geworden
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