Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
war und die Erinnerung an Muortis nur noch ein Schatten, mit dem man Menschenkinder in dunklen Nächten erschreckte. Und in dieser Zeit, als selbst Kaelor nicht mehr daran glaubte, dass die Kälte je zurückkehren könnte, erwachte Muortis, der Herr des Eises, wieder zum Leben. Fünf Jahrtausende hatte er geruht und seine Kräfte gesammelt – bis er stark genug geworden war, seinem einstigen Diener im Traum zu erscheinen.
»Kaelor«, sagte er, »das Warten hat ein Ende. Die Kälte kehrt zurück – und mit ihr meine Macht. Rufe die Erle und sammle sie zum Krieg. Muortis’ Heer soll sich neu formieren. Das Eis ist erneut auf dem Vormarsch, und diesmal wird es niemand aufhalten – weder die Menschen, deren Wille schwach ist und leicht zu beeinflussen, noch die Zwerge, die sich verkrochen haben in ihrer Festung aus Fels und Kristall, noch die Söhne Vanis’, die längst vergangen sind und an die sich niemand mehr erinnert. Ich hingegen habe die Zeit überdauert. Die Welt der Sterblichen wird fallen. Eis und Kälte werden sie bedecken – und ich, Muortis, werde herrschen!«
1
Es war das Jahr des frühen Laubes.
Schon im Sommer hatten die Blätter begonnen, sich zu verfärben, und die Alten und Weisen hatten vor einem frühen und harten Winter gewarnt. Doch das war nicht die einzige düstere Prophezeiung: Überall entlang der Bennian Mar wurde in diesen Tagen von dunklen Zeichen berichtet, die Mangel und Not verhießen. Und auch der eisige Wind, der ungewöhnlich früh aus den Bergen wehte und den Geruch von Schnee und Eis in die Täler trug, schien von drohendem Ungemach zu künden.
In diesem Jahr wurden zur Sonnwendfeier besonders großzügige Opfer gebracht, und auch in den kurzen Nächten ließ man die Feuer nicht verlöschen. Es ging die Kunde, dass man seltsame und unheimliche Wesen in den Bergen gesichtet hätte, Wesen aus grauer Vorzeit.
Ein Kaufmann aus dem Süden, der nach langer Reise in Seestadt ankam, behauptete, auf der Passhöhe einem Enz begegnet zu sein, dessen Haut aus Stein gewesen wäre. Ein Holzfäller aus dem Oberland wollte einen Kobling gesehen haben, der nur aus einem Bein und einem großen Auge bestanden und ihn bedrohlich angeglotzt hätte. Ein Bilwisschnitter, so hieß es, hätte im Unterland ein ganzes Kornfeld verwüstet. Und mehrere Bauern aus dem Flusstal behaupteten gar, einen Feuerreiter gesichtet zu haben – einen Knochenmann auf einem brennenden Pferd, dessen Erscheinen von alters her als schlechtes Omen gedeutet wurde.
Die beunruhigendste Begebenheit jedoch trug sich am Ostufer des Búrin Mar zu, jenes großen Wassers, das sich von den Ufern Allagáins bis an die Gestade des Zwergenreichs erstreckt.
Am frühen Morgen des Tages Toisac, als die Bewohner von Seestadt noch schliefen, legte ein einzelnes Fischerboot vom Steg ab und fuhr auf den See hinaus. Es dämmerte bereits, und die ersten Strahlen der Sonne ließen den Nebel über dem Wasser unheimlich leuchten. In der Stille konnte man das Quaken der Flügelfrösche hören, die entlang des Ufers auf Jagd waren. Keinem der drei jungen Männer im Boot war wohl in seiner Haut, auch wenn keiner von ihnen dies offen zugegeben hätte. Denn zum einen hatte das Wetterweib einen Sturm geweissagt, zum anderen war der Tag Toisac dem Schöpfergeist geweiht, und wer dennoch arbeitete, musste mit Bestrafung rechnen.
Die drei jungen Männer jedoch missachteten das ungeschriebene Gesetz und liefen aus. Vorn am Bug stand Alored, des Tangfischers Sohn, und hielt Ausschau nach Zeichen für einen guten Fang. Für die Fischer von Seestadt war es ein schlechtes Jahr gewesen, und der frühe Winter, der sich ankündigte, würde die Ufer des Búrin Mar rasch gefrieren lassen und den Fischfang zusätzlich erschweren. Alored, der in seiner unbekümmerten Jugend auf das Geschwätz der Alten von drohendem Unheil nichts gab, wollte mit vollen Netzen zurückkehren und die Vorratskammern füllen, wollte als gefeierter Held in die Annalen von Seestadt eingehen. Seine Ehrsucht hatte seine Freunde angesteckt, und so stahlen sie sich heimlich davon und fuhren am Tag Toisac aus, um reiche Beute zu machen – ohne zu ahnen, dass sie selbst zur Beute werden sollten.
»Was siehst du, Alored?«, fragte Kilan, der nicht eben kluge Sohn des Fischhautgerbers Gumper. »Kannst du etwas sehen?«
»Nichts«, antwortete Alored missmutig. »Nicht eine einzige Flosse. Dabei müssten wir die Fischgründe längst erreicht haben.«
»Mein Vater sagt, dass
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