Landgericht
gezwungen freiwillig zu gehen, seine Frau hoffte er nachkommen lassen zu können. Das war nicht gelungen. Hätte man nicht den ihm zudiktierten Namen Richard Israel Kornitzer (der Dr. jur. kam nicht mehr vor) in Listen eingetragen mitsamt einer Adresse, einer Steuernummer, hätte man nicht seine wirtschaftliche Existenz vernichtet. Reichsfluchtsteuer war zu zahlen, während man ihn hinausschmiß. Er hatte eine Abreiseadresse und eine Zieladresse, die nur ein Schiff war. Es hatte einen schönen klangvollen Namen:
Reina del Pacífico
. Das Ablegedatum und der Name des Dampfers, mit dem er reiste, klangen wie ein Geburtsdatum und ein Geburtsort einer vogelleichten Existenz, die vorsichtig, damit sie nicht gleich umkippte, aufs Wasser gesetzt wurde. Eine Adresse, ein Eintrag in einem Geburtsregister, eine Paßnummer, eine standesamtliche Eintragung zu einer Eheschließung, eine Bemerkung über den Beitritt zu einer kirchlichen Gemeinschaft (Taufe? Ja.), all dies ließ keine Spuren oder doch nur so periphere, daß diese Spuren, als er endlich angekommen war, nicht zählbar, nicht auflistbar waren. Die Zusammenhänge, aus denen er stammte, waren abgeschnitten, und er selbst war eine Rumpfexistenz. Er war ein Paket geworden, das expediert werden mußte. Aber er war auch ein Mensch. Diese Wahrnehmung löste die Probleme nicht, im Gegenteil, sie schuf neue, die gar keine Namen hatten, vielleicht hießen sie nur Anpassungsschwierigkeiten, Gefühlsstörungen, aber das würde sich geben, so mußte man denken, wenn der Mann nach knapp zehn Jahren wiederkam, wiederkommen durfte, auf ausdrücklichen Wunsch, ja auf das beherzte Eingreifen der Frau.
Alles schwankte, die Berge grüßten, die satten grünen Matten waren ein Grund, auf dem man stehen könnte (wenn man Grund und Boden hätte), ein Fuß in der Stadt, ein Fuß auf dem Berg, mit Riesenschritten ginge es so zurück in eine Normalität. Claire Kornitzer hatte als Sekretärin bei einem Patentanwalt am Bodensee gearbeitet, solange noch Krieg war, produzierte die Waffenindustrie in der Nachbarstadt: Die Zeppelinwerft, die Motorenfabrik, die Zahnradfabrik und die Aluminiumfabrik, alle liefen auf Hochtouren. Alle arbeiteten fieberhaft an neuen (kriegswichtigen, kriegsentscheidenden, so hieß es) Produkten. Ingenieure tüftelten an Erfindungen, die Firmen meldeten Patente an, noch und noch, man wußte ja nie, man würde nach Kriegsende (so oder so) die Patente ins Ausland verkaufen. Da hatte der Patentanwalt viel zu tun, und er war froh, eine verständige Mitarbeiterin zu bekommen, die durch ihren Mann, der verschollen war, schon in den frühen dreißiger Jahren Erfahrungen mit dem Patentrecht hatte. Er war zufrieden mit Claire, und Claire glaubte, es auch gut getroffen zu haben. Dann wurde die Stadt der Flugzeugwerft, der Maschinenfabriken, der Aluminiumerzeugung bombardiert, eine Dornier trudelte, brannte, lag wie ein großer Torpedokäfer auf dem Rücken, ein Flügel gekippt, aufgerissen. Dem Luftangriff vom 28. April 1944 fiel die Schloßkirche in Friedrichshafen zum Opfer, der Dachstuhl brannte, der Helm kippte, die Orgel und große Teile der Kirchenbänke wurden vernichtet. Weil kein Notdach errichtet werden durfte, blieben die unbeschädigten Deckengewölbe der Witterung ausgesetzt, so daß sich die Deckenfresken mit der Zeit auflösten und der wertvolle Stuck seit dem Herbst 1945 von der Decke herunterstürzte.
Die Büros der Ingenieure waren vor den Angriffen notdürftig aufs Land evakuiert worden und arbeiteten unverdrossen weiter, so hieß es. Aber nach dem Krieg wollte niemand mehr etwas wissen von den Motoren, der Luftfahrtindustrie, der kriegswichtigen Maschinenproduktion und ihren Erfindungen, von dem Hafenwesen, dem Zahnradwesen, dem Eisenbahnausbesserungswesen noch am ehesten. Die Produktionsstätten für Aluminium waren zerstört, das Waffenwissen lag brach, die Firmen zwangsaufgelöst, die Patente wie Blei im Keller, kein Bedarf, nicht einmal mit der Kneifzange anzufassen. Einige Ingenieure, die sich etwas auf ihr Wissen zugute hielten, verschwanden, waren auf klammen Wegen ins Ausland gegangen, hatten sich einfach abgesetzt mit ihren eingerollten Plänen, ihrem strikten Willen zum Siege, und wenn es nicht der Endsieg geworden ist, dann der einer einschmiegsamen Rede, die von Europa säuselte, wenn sie Deutschland meinte, von dem europäischen technischen Fortschritt, der europäischen technischen Überlegenheit, wenn sie Deutschland meinte. Es war zum Lachen.
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