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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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eine Gelenkstelle in der exotischen Situation zwischen den österreichischen Besatzungsregionen der Franzosen und dem Linksrheinischen und Baden und Württemberg, die gleichermaßen französisch besetzt und verwaltet waren. Der Kreispräsident war mit einem Ministerpräsidenten zu vergleichen, eingesetzt von der französischen Besatzung.
    „Hierdurch“, schrieb Kornitzer, „bitte ich ergebenst, die zuständigen Stellen des Landkreises anweisen zu wollen, mir diejenigen Vergünstigungen zu gewähren, die allgemein den aus Übersee zurückgekehrten Flüchtlingen des Naziregimes gewährt worden sind.“ (Woher weiß er von Vergünstigungen? Mit wem steht er in Kontakt? Was liest er in der untätigen Zeit?) Und weiter schreibt er, als würden sich solche Fragen nicht auch die Behörden, die er anschreibt, stellen: „Ich habe vom Landratsamt, Betreuungsstelle für politisch Verfolgte, am 8. 6. d. J. folgende Mitteilung erhalten:
Nach Prüfung Ihrer Unterlagen wurde festgestellt, daß Sie seit 1941 staatenlos sind. Die deutschen Betreuungsstellen für politisch Verfolgte betreuen jedoch nur deutsche Staatsangehörige. Für die Betreuung von Ausländern und Staatenlosen ist die IRO zuständig, Sie werden deshalb gebeten, sich an diese Stelle zu wenden.“
Kornitzer hatte gelesen, las zweimal, reichte Claire das Schreiben, dann begann er zu zittern, er las laut „jedoch nur deutsche Staatsangehörige“, las lauter „nur deutsche Staatsangehörige“, und warf das Schreiben zu Boden. Er tobte auch noch, als er es aus dem Gedächtnis zitierte, „nur deutsche Staatsangehörige“. Bitte, Richard, sagte Claire, beruhige dich doch, es wird sich alles klären. Klären?, schrie er, was soll sich klären? Alles ist sonnenklar. Pst, machte sie, die Pfempfle-Kinder werden wach, wenn du so schreist. Irgendjemand muß ja mal wach werden, schrie er. Bitte, Richard, so kenne ich dich nicht, bitte, sei leis, flehte sie. Und dieses „so kenne ich dich nicht“ brachte ihn zur Raison, er wollte doch wiedererkannt werden und hatte seine Frau auch wiedererkannt und Angst gehabt, als er sie nicht gleich auf dem Bahnsteig sah, sie hätte sich so grundsätzlich verändert, daß er schamvoll an ihr vorbeigegangen wäre, oder sie hätte ihn nicht sehen wollen, erst nach einer Schrecksekunde, und sich dann freudig oder gespielt freudig umgewandt, um ihn filmisch wie in einer Großaufnahme zu erkennen. Nein, so war es nicht gewesen, und wäre es so gewesen, ein langer Schatten hätte sich über ihr Wiedersehen gebreitet, eine Verlegenheit. Doch die gab es nicht, glücklicherweise. So versuchte er sich wieder zu fassen, Claire hatte ihm auch eine Hand auf den Arm gelegt, mit dem er zu fuchteln begonnen hatte. Und dann erklärte er ihr: Die IRO hatte ihn schon seit der deutschen Kapitulation betreut, ja auch schon früher, als die Kapitulation zu erwarten war, danach waren zweieinhalb Jahre vergangen, die er in einem schmerzlichen Wartezustand verbracht hatte, zwischen Hoffen und Bangen und totaler Niedergeschlagenheit, er würde nie mehr seine Frau, seine Kinder finden, und nun mußte er sich ganz hinten einreihen, und seine Geschichte war in den Wind geschrieben. Anstellen und betteln wie ein Bürger aus einem fernen Schtetl (waren das überhaupt Bürger?, er wußte es in der Erregung nicht so genau). Die Nazis hatten es überrannt und angezündet und die Bewohner wie Vieh zusammengetrieben, um aus ihnen ein letztes Quentchen Arbeitsfähigkeit herauszupressen, und wenn dieses nicht mehr zu erwarten war, sie zu vernichten. Er konnte sich naturgemäß die eigene Vernichtung nicht vorstellen. So hatte er gewaltige Anstrengungen gemacht, die eigene Auslöschung zu verhindern, die der Kinder zu verhindern, er hatte dafür die Vernichtung seiner familiären Situation auf dem Gewissen, so kam es ihm vor. Das war eine schwere Bürde, von der er sich kaum befreien konnte, solange die Kinder nicht wieder unter einem gemeinsamen Dach mit ihren Eltern lebten. Er mußte sich setzen, nachdem sein Anfall zu Ende war.
    Was die Ausbürgerung betraf, so hielt er sich in seinem folgenden Schreiben an den Herrn Kreispräsidenten kurz und knapp, er schrieb, daß seine Mitteilung insoweit richtig sei, „als ich tatsächlich staatenlos bin. Das ändert jedoch nichts daran, daß ich nicht zu den Nichtdeutschen gehöre, die niemals die deutsche Staatsbürgerschaft besessen haben, sondern daß mir gerade durch einen nationalsozialistischen Verfolgungsakt die

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