Landgericht
Erfahrungen mit denen der Kinder in Übereinstimmung gebracht würden. Wenn die Erschütterung der Kinder, ihr Schrecken, ihre Fremdheit so wichtig würden wie die disparaten Erfahrungen der Eltern. Ja, darauf mußte man sich sorgsam vorbereiten.
Kornitzers Brief an den Kreispräsidenten hatte eine erstaunliche Wirkung. Der Kreispräsident schrieb dem Landrat, der schrieb dem Kreispräsidenten zurück:
Nach den für die Betreuung der politischen Verfolgten bestehenden Richtlinien ist die Betreuung von Staatenlosen nicht vorgesehen. Der von Herrn Dr. Kornitzer für seine Person geschilderte Tatbestand, nämlich die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit als ein Verfolgungsakt, ist in den Richtlinien nicht erwähnt. Als Grund hierfür darf wohl angenommen werden, daß die seinerzeit von der nationalsozialistischen Regierung ausgesprochene Ausbürgerung auf Antrag des Betroffenen für nichtig erklärt werden kann, und daß die Betreuung ohnedies von der UNRAA, bzw. IRO auf die deutschen Betreuungsstellen übergeht, andererseits aber ein Ausgebürgerter, der die deutsche Staatsangehörigkeit nicht wieder erwerben will, seine Betreuungsansprüche bei der UNRAA, bzw. IRO stellen kann. Die Nichtigkeitserklärung von Ausbürgerungen regelt sich in Bayern nach dem Gesetz Nr. 108 über die Staatsangehörigkeit von Ausgebürgerten vom 27. 3. 1948. Für Württemberg und Hohenzollern ist ein gleiches Gesetz der Betreuungsstelle nicht bekannt geworden
. Kornitzer wurde empfohlen, die Nichtigkeit seiner Ausbürgerung zu beantragen, sobald das Gesetz auch im Kreise Lindau in Kraft getreten sei. Und er solle die erforderlichen Unterlagen, nämlich den Nachweis der jüdischen Abstammung und der erlittenen Schäden beibringen. Dagegen konnte er wenig sagen, die Nichtigkeit seiner Ausbürgerung war ein Teil anderer Nichtigkeiten. Die Schreibmaschine klapperte, die Farbbänder spulten sich weiter und weiter. Wäre die Nichtigkeit der Ausbürgerung beantragt, würde ihm, Dr. Richard Kornitzer, mehr Achtung entgegengebracht, so dachte er, wenigstens eine Maßnahme, die zu seiner Demütigung und Behinderung im öffentlichen Leben geführt hatte (in der Nachfolge anderer Maßnahmen) wäre vom Tisch. Von der Ausbürgerung, die ihn in Kuba traf, wußte er damals nichts. Sein deutscher Paß verlor seine Gültigkeit, und er merkte es nicht einmal; ein hoffnungsvolleres Emigrationsland war nicht mehr zu erreichen. Zwischen England und den USA torpedierte Schiffe, zwischen den USA und Kuba komplizierte, vorwiegend mit Geld geschmierte Beziehungen. Die Kinder in England und weit weg, unerreichbar: Claire, die ihre nichtarischen Verwicklungen verleugnen, verstecken mußte als arische Geisel in Deutschland. Und so war eine Fremdheit entstanden, die eigene Not und die fremde Not, außerhalb der Restriktionen und innerhalb der Grenzen des eigenen Empfindungsvermögens nicht vermitteln zu können. In Kuba war es häßlich und deprimierend für einen Flüchtling. Das einzige Interesse bestand darin, Geld aus ihm zu pressen und, wenn das nicht gelang, ihn in die Obhut von Hilfsorganisationen zu pressen, die dann das Geld, das erpreßt werden sollte, aus irgendwelchen Fonds zahlten, die gutmütige jüdische Gemeinden in den USA oder in Portugal aufbrachten in der Hoffnung, sie würden Glaubensbrüdern helfen, aber Kornitzer war kein Glaubensbruder, er war ein abtrünnig gewordener Bruder, und daß nur Hitler oder seine absurde Gesetzgebung, wer ein Geltungsjude, ein halber Jude, ein Vierteljude oder ein Nennjude war und wie seine Kinder zu schikanieren waren unter welchen Bedingungen, ihn an seine Herkunft erinnerten, das wollte er in der Tat nicht an jedem Tag wissen, solange er noch juristische Fachzeitschriften gelesen hatte, solange er noch in öffentliche Bibliotheken ging, solange die Staatsbibliothek ihm noch offen stand, ihm, dem geschaßten Justizassessor am Landgericht, der danach gefiebert hatte, ein Landgerichtsrat zu werden.
In Bettnang las er das Amtsblatt, regelmäßig, eine neue Pflichtlektüre. Die Franzosen hatten sofort nach der Befreiung die schlimmsten Nazi-Gesetze außer Kraft gesetzt, beließen aber vorerst das Rechtssystem, so wie es war. Angehörige der Wehrmacht in oberen Rängen, Offiziere, NS-Verantwortliche mußten sich von Zeit zu Zeit polizeilich melden und jeden Wohnortswechsel angeben. Kornitzer las die Berichte aus dem Militärgericht und dem Amtsgericht, strenge Urteile, und schließlich fand er die Notiz, die
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