Landgericht
dringend empfohlen
. Auch auf das Treppensteigen soll er verzichten. Er schreibt dies an den Präsidenten des Landgerichts, gegebenenfalls zur gefälligen Weitergabe. Er lebt in dünner Luft. Er lebt wie mit angezogener Handbremse. Gibt es Einwände, die er vergessen hat? Manchmal geht er zum Rhein, sieht die Pontons der Schifffahrtslinien in ihrer silbrigen Mattheit, die Schwäne, die am Ufer tuckern, und er glaubt, das Wasser trüge ihn. Doch er will nicht getragen werden. Die letzte Enttäuschung, die ihn quält: Wenn die Illusion, illusionsfrei zu sein, sich als solche herausstellt. Und: Er ist der Auffassung, der höchste Grad der Gegenwart ist die Abwesenheit.
Aus der Verfolgung seiner Person ist eine Verfolgung seiner Ansprüche geworden. Er beantragt am Mittwoch, dem 22. Mai 1957, Dienstbefreiung unter Fortzahlung seiner vollen richterlichen Gehaltsbezüge ab Montag, dem 27. Mai, auf zwei Monate. Es eilt ihm, er will die Stadt verlassen, aber kennt doch auch die langen Dienstwege, die zu einer Dienstbefreiung führen. Drei bis vier Wochen seien notwendig, um ihm die Bearbeitung der Wiedergutmachungsangelegenheiten und die damit zusammenhängenden Sachen zu ermöglichen, schreibt er in seinem Antrag. Es handele sich „um die vordringlich gewordenen und gründlicher Durcharbeitung bedürfenden eigenen Wiedergutmachungssachen, auch im Zusammenhang mit der zur Zeit nicht mehr bestehenden richterlichen Unabhängigkeit und Gleichstellung meiner Person, ferner um Angelegenheiten meiner Frau und meiner Kinder. Dazu sind mehrere Reisen, Konferenzen und Ermittlungen nötig. Neben den Dienstgeschäften kann ich diese Sachen nicht besorgen.“ Zusätzlich bittet er um Dienstbefreiung, um eine vierwöchige Kur anzutreten, die die Berliner Wiedergutmachungsbehörde bewilligt und angeordnet hat. Sie ließe sich nur noch einige Zeit aufschieben. Er horcht in den Raum, er sitzt auf glühenden Kohlen im schönsten Frühjahr, er geht erwartungsvoll herum und lauert auf den Bescheid, der nicht kommt. Am 24. 5. 1957 schreibt der Landgerichtspräsident in Mainz an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Koblenz:
Ich habe den Eindruck, daß Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer den mit der Verfolgung seiner Ansprüche verbundenen Arbeitsaufwand sowie Aufregungen nicht so gewachsen ist, als daß er daneben noch die ihm obliegenden Dienstgeschäfte in vollem Umfange zu führen vermöchte
. Das war vornehm distanziert, aber in der Sache hart formuliert. Die Beurteilung strahlte die Gewißheit aus: Hier an dem Ort, an dem ich sitze, an der Stelle des Landgerichtspräsidenten, überblicke ich vollkommen die Lage. Dieser Richter, über den ich eine Beurteilung geschrieben (ein Urteil gefällt) habe, ist vollkommen ungeeignet, eine solche Position wie die meine auszufüllen. Ob er weiß, daß Kornitzer, seit er die Bemerkung über seinen massigen Körper in seiner Personalakte gelesen hat, häufiger Einsicht in seine Personalakte verlangt? Läse er, was der Präsident des Landgerichts über ihn geschrieben hat, er würde vier Wochen lang krank sein, krank vor Zorn, vor Erbitterung, krank vor Scham, bis ins Mark erschüttert. Und er ist ja schon krank, krank vor Aufregungen, krank von der Kränkung. Sein Herz rast, er schläft schlecht, wacht auf, schweißgebadet, und muß die Wäsche wechseln.
Er kämpft, er leidet, er kann nicht anders. Und er weiß auch nicht, nie wird er es erfahren, daß der Präsident des Landgerichts ein unmißverständliches Signal an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Koblenz sendet:
Seit einiger Zeit ist seine Leistungsfähigkeit und auch die Qualität seiner Leistungen durch gesundheitliche Schwankungen beeinträchtigt. Die damit in Verbindung stehende seelische Depression hat ihn mitunter bei der Leitung der Sitzung beeinträchtigt, vereinzelt sogar zu dem Eindruck geführt, als beherrsche er den Akteninhalt nicht genügend
. Wie und bei wem ist dieser Eindruck entstanden? Bei den Parteien? Bei seinen Beisitzern? Haben sie den Vorsitzenden der Kammer angeschwärzt? Oder hat der Landgerichtspräsident die Herren Hartmann und Nell um eine Stellungnahme gebeten, wie nach der Sitzung, in der Kornitzer einen Artikel des Grundgesetzes verlesen hat? Ist das zulässig? Hintertreiben sie seinen ehrgeizigen Aufstiegswunsch? Sie sind darauf vorbereitet, gefragt zu werden.
Am 15. Juni 1957 erreicht den Landgerichtspräsidenten in Mainz ein Schreiben des Oberlandesgerichtspräsidenten in Koblenz. Er hat in der
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