Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
Vom Netzwerk:
wie ein Schild vor sich her getragen hatte. (Die Formulierung „Jemand läuft mit dem Grundgesetz unter dem Arm herum“ war noch nicht in Mode.) Hartmann und Nell arbeiteten zu Kornitzers Zufriedenheit, politische Erörterungen waren nicht angebracht im Besprechungszimmer der Zivilkammer, auch eigentlich nichts Persönliches. Kornitzer mochte Nell, den dünnen Schlaks, und hatte ihn nach Kräften gefördert. Hartmann dagegen schien jetzt manchmal eine funktionelle Begriffsstutzigkeit an den Tag zu legen, ein Zögern, ein Sich-Verschließen vor einem Argument, als könnte darin eine Falle, eine Falltür ins Ungewisse verborgen sein. Dabei fuhr er sich sinnend durchs Haar, als wäre tief zwischen seinen Haarwurzeln eine Klarheit, eine Logik der Argumentation verborgen. Kornitzer müßte diese Veränderung – natürlich auf ganz abstrakte Weise – bei der nächsten dienstlichen Beurteilung auch zur Sprache bringen, er hoffte, die nächste Beurteilung stünde nicht so bald an. Aber er empfand es auch so, als sei immer eine gläserne Wand zwischen ihm und den Beisitzern, wenn sie miteinander im Besprechungszimmer saßen und berieten. Jedenfalls konnte er sich auf sie verlassen. (Oder er wollte es glauben.) Das Verlassen, das Sich-auf-jemanden-Verlassen und das Sich-verlassen-Fühlen rückten nahe zueinander und überlagerten sich schließlich, und es war nicht mehr ganz klar, an welcher Stelle man sich selbst einordnen wollte oder konnte. Kornitzer arbeitete an sich selbst, er arbeitete an einem Entwurf von Welt, und gleichzeitig entglitt ihm Welt, rutschte weg ins Unfaßliche, Unstoffliche. Er kann sein eigener Zeuge nicht sein.
    Er wird ein Antragsteller und nennt sich selbst „den Antragsteller“. Dem Antragsteller wird geantwortet in einem
Wiedergutmachungsbescheid
, sein Antrag sei unbegründet:
Der Antragsteller ist im Jahre 1949 aus Gründen der Wiedergutmachung im Justizdienst des Landes Rheinland-Pfalz als Beamter auf Lebenszeit bevorzugt „wiederangestellt“ worden, obwohl er vor diesem Zeitpunkt niemals als Angehöriger des öffentlichen Dienstes im Gebiet dieses Landes tätig gewesen ist
. Es scheint ihm so, als schmiere man ihm das aufs Butterbrot. Ja, er ist nicht einheimisch, er ist in Breslau geboren und hat in Berlin studiert und seine Karriere begonnen. Ist das ein Fehler? Oder ist es eher eine Weltläufigkeit, über die die
im Gebiet dieses Landes
Geborenen, das vor den eingetretenen Umständen gar kein Land gewesen ist, sondern etwas Übriggebliebenes, etwas Niedergetretenes, an die Franzosen Abgetretenes, gar nicht verfügen?
Kurz nach seiner Ernennung zum Landgerichtsrat ist –wiederum aus Wiedergutmachungsgründen – seine Beförderung zum Landgerichtsdirektor beantragt und durch den Erlaß des Ministerpräsidenten mit Wirkung vom 1. September 1949 verfügt worden
. Nun, acht Jahre später, klingt es, als sei es eine Gnade gewesen, daß man den Mann, der keinen rheinischen und keinen pfälzischen Stallgeruch hatte, den niemand kannte als Referendar oder Gerichtsassessor, eingestellt hat. Und: Es ist deutlich, man hätte dies nicht tun müssen, es war eine Freundlichkeit, eine Herablassung, es zu tun, eine Wiedergutmachungsgeste, vielleicht ein Wink der französischen Besatzer, das läßt sich nicht mehr klären. Jedenfalls keine Überzeugung, kein Rechtstitel. Von einem Anspruch des Antragstellers ist nicht mehr die Rede. Das soll doch bitte der hochfahrende Landgerichtsdirektor, der sich zu Höherem berufen fühlt, begreifen. Schneidend kalt wird einem bei diesem Bescheid. Weil die Macht, die Entscheidungsbefugnis, anderswo ist, jedenfalls nicht dort, wo Kornitzer ist, läßt sich mit langem Atem argumentieren, seitenlang ausschweifen, und Grundsätzliches kann sorgsam zwischen den Zeilen verborgen werden, während Kornitzer sein Herz im Halse klopfen spürt. Er liest den Schriftsatz, er versteht ihn, es zerreißt ihn, und er muß streng mit sich sein, um später einen anderen (gegnerischen) Schriftsatz konzipieren zu können.
    Rückwirkend seien ihm vom 1. Juni 1949 an die Dienstbezüge eines Landgerichtsdirektors (Besoldungsgruppe A 2b) zuerkannt worden, führt das Justizministerium aus.
Damit hat der Antragsteller die Rechtsstellung und die Besoldung erlangt, die er im Verlauf seiner Dienstlaufbahn voraussichtlich erreicht haben würde, wenn er im Jahre 1933 nicht vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden wäre. Eine weitere, über die Stelle eines Landgerichtsdirektors hinausgehende

Weitere Kostenlose Bücher