Landgericht
nicht empfangen, und die Auskünfte über seinen Alltag waren karg. Und das bekümmerte wiederum Richard Kornitzer: Er wurde die Erinnerung nicht los, wie er das Bübchen in Berlin auf dem Wickeltisch liegen gesehen und auch die nötigsten Maßnahmen gegen eine sich ausbreitende Feuchtigkeit ergriffen hatte, mit ihm gespielt, ihm die Welt erklärt hatte, und der große Sohn tat so, als hätte er, der Vater, einen vollkommen fremden, ausländischen Säugling in einer anderen Zeitstufe eines fremden Jahrhunderts gewickelt: also alles zurück auf Null. Er hatte die Liebe vergessen, verdrängt. Ja, seine Kinderwären andere Menschen geworden, wären sie bei ihrer Mutter und ihrem Vater aufgewachsen. Selma war entschieden gesprächiger, auch streitlustiger. Sie erzählte ihrem Vater, daß sie heiraten wolle, aber daß ihr Freund ihrem Plan noch nicht wirklich zugestimmt habe. Der Vater mahnte zur Vorsicht, so viel Eifer könne leicht ins Leere laufen. Und als er sich nach dem Freund, dem erwählten Ehemann, erkundigte, sagte Selma, er sei ein richtiger Jude. Und genau das schien sie anzuziehen. Kornitzer erlaubte sich zu sagen, daß es ihm übertrieben demonstrativ erscheine, im Jahr 1957 einen Juden heiraten zu wollen. (Andere Eigenschaften des Freundes erwähnte sie nicht.) Selma sah ihn argwöhnisch an und fragte: Was ist übertrieben?, ich verstehe das Wort nicht. Und als ihr Vater ihr englische Entsprechungen nannte, verstummte sie, verstimmt.
Er hörte Amanda nicht, er hätte sich (symbolisch gesprochen) ans Meer stellen müssen, an die holländische Küste, um das Kind und auch seine Mutter, oh ja, diese vor allem, zu rufen. Es war, der deutsche Ausdruck war blödsinnig, es war verlorene Liebesmüh. Oder er hätte ein Rechtshilfegutachten beantragen müssen: eine Amtshilfe, um seine kubanische Tochter sehen zu können. Andere Väter entführten ihre Kinder, tanzten den Müttern der Kinder, ihren früheren Geliebten, auf der Nase herum, nahmen ihnen ein Kind weg aus welchen Gründen immer. Doch die Gründe waren klar: aus Egoismus, aus Rachsucht, aus Hochmut. Das kam nicht in Frage. Das Recht war auf Seiten der Mutter, und Kornitzer war auf der Seite des Rechts. Er schrieb Goldenberg, Goldenberg antwortete, vermittelte, aber was war da zu vermitteln? Allein die Post dauerte elend lang, und die Hälfte der Briefe ging verloren. Kornitzer war in Kontakt mit Emigranten aus Shanghai, und diese berichteten von der preußischen Genauigkeit, der Schriftkundigkeit in alle Richtungen, die die ehrgeizigen Briefträger in Shanghai an den Tag gelegt hatten. In Havanna war das anders, wer bekam schon Briefe und warum; vielleicht wurden ganze Briefsäcke ins Meer geschüttet oder den Fischen zum Fraß vorgeworfen, damit sie ordentlich fett wären, wenn sie sich der Küste näherten.
Kornitzer sah sich seine Kollegen im Landgericht an: Landgerichtsrat Beck, zehn Jahre jünger als er, war auch längst Landgerichtsdirektor geworden. Er hatte sich ein starhaftes Hochrecken des Kinns angewöhnt, als dirigiere er ein ganzes Orchester und nicht eine Kammer für Strafrecht. Dabei rieselten Schuppen auf seine Robe. Sein Bartschatten war silbrig geworden. Der vierschrötige Dr. Buch, der einen Augenblick lang in seiner Karriere – im Jahre 1946 – Angst gehabt hatte, seine Vergangenheit lösche seine Zukunft aus, hatte diese Angst gründlich aus dem Gedächtnis getilgt. Mit beamtenhafter Sturheit starrte er auf den Termin seiner Pensionierung, „noch ein paar Jährchen“, saß sein Richteramt, wie man so sagt, auf einer Arschbacke ab. Zeh, den Kornitzer als einen Zeugen zu seiner „Tat“, der Verlesung von zwei Grundgesetzartikeln, dazugebeten hatte, war auf höfliche Weise distanziert, nur nicht daran rühren, drückte seine Miene aus. Hatte Kornitzer ihn falsch eingeschätzt, oder fühlte er sich überrumpelt? Landgerichtsdirektor Brink jedenfalls, der Übermittler der Botschaft an das Oberlandesgericht, war von eisiger Undurchdringlichkeit, wie erfroren. Justizobersekretär Fell hingegen, der Protokollant, begann manchmal, wenn er Kornitzer auf den Fluren traf, ein ungehemmtes Schwatzen über alles Mögliche, als hätte das zu Protokollierende eine Schleuse geöffnet, und Ungefiltertes, Zufälliges dringe in den Raum wie Keime. Hartmann und Nell, Kornitzers Beisitzer, waren von verhaltener Distanz, etwas schien in ihren Köpfen zu rattern, vielleicht die Erinnerung an die Lesung des Grundgesetzes, das der Vorsitzende der Kammer
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