Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
Vom Netzwerk:
eine Fünfzehnjährige war, die kein Deutsch konnte, wie er nur ein korrektes Buch-Englisch konnte, kein Herzensenglisch, kein Zungenenglisch, und Claire, die überhaupt kein Englisch konnte, aber vorausschauend ein großes Lexikon gekauft hatte, müßte alles richten.
    Dann war es Winter geworden, ja, ein übermäßig kalter Winter, die toten Flußarme froren zu, aber die Kälte hatte, wenn er mit der Tram in die Innenstadt – oder was von ihr übriggeblieben war – fuhr, auch eine schöne Klarheit. Der scharfe Geruch der Essigfabrik, der beißende der Schuhwichsefabrik waren von der kalten Winterluft „wie verschluckt“, warum das so war, wußte er auch nicht. Aber nach so viel sengender Hitze machte ihn die klirrende Kälte auch fröhlich. Und dann wußte er es: Die Kälte roch nicht, schwitzte nicht, und man mußte den Schweißgeruch, den eigenen und den der anderen Fahrgäste, in der Tram nicht ertragen. Sie klärte ihm den Kopf, natürlich fror er in seinem zu dünnen Zeug, kaufte sich einen teuren Wintermantel mit schönen Hornknöpfen, aber er dachte an Claire, an die aufplatzenden Frostbeulen an ihren Füßen, die Beschämung, mit der sie ihm ihre nackten Füße gezeigt hatte, als könnte er seine Liebe zu ihr verlieren, wenn er die offenen Wunden sah. (Seine nicht so offenliegenden Wunden sah sie nicht gleich, und das hatte auch etwas Gutes, Beruhigendes.)
    Alles war ein bißchen besser geworden, als Kornitzer es sich an dem Abend ausgemalt hatte, während er die Fasern des Kaninchenfleisches zwischen den Zahnlücken hervorpulte. Ihm stand nun überraschenderweise als Landgerichtsrat ein Deputat an Brennstoff zu, das anderen Opfern des Faschismus sicher zur gleichen Zeit fehlte. Sie können sich nach allem, was sie erlebt oder erduldet haben, mit einem kalten Ofen oder dem Nichtvorhandensein eines Ofens abfinden, dachte er. Für die Kohlen mußte er zwar einen Teil seines Gehalts hinblättern, aber er mußte wenigstens nicht in den Wald – wenn überhaupt noch etwas von dem Wäldchen in der Gemarkung übrig war, nasse Zweige im Ober-Olmer Wald, die die Franzosen liegen gelassen hatten, und das war durchaus strittig, wenn jeder, der wollte und konnte, die Axt schwang. Er hatte die Dreisens bitten müssen, ihm eine Ecke im Keller für seine eigenen Kohlen einzuräumen, eine Ecke, die aber nicht abtrennbar war. Auf einem Verschlag, der auch kostbares Holz gekostet hätte, konnte er nicht bestehen. So war er auf Vertrauen angewiesen, daß sie sich nicht an seinem Eigentum vergriffen. Daß da Kohlen lagen, die sein Eigentum waren, ein kostbares Gut, sein eigentliches Eigentum, kam ihm selbst seltsam vor. Und seine Furcht vor dem Autoritätsverlust, er könne als Richter bestohlen werden, verbannte er. Er mußte die Aktenlage kennen, das Landgericht war ungeheizt, die Finger froren, die Nase lief, er hatte ja keine festen Arbeitszeiten, nur die Sitzungen und Konferenzen, da schien es ihm billig, daß er seine Vorbereitungen auf die Sitzungen im Dachstübchen bei den Dreisens zumindest nicht froststarrend bewältigen mußte. Wenigstens mußte er nicht die Axt schwingen. Und das ließ ihn doch eine ganze kalte Nacht lang nach dem schwierigen Gespräch gut schlafen.
    Der Winter im Jahr vor der Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland war sehr streng gewesen. Es gab wenig Essen, und dieses auf Marken, Fett und Nährmittel hießen die ungewissen Kategorien. 800 Kalorien standen einem Erwachsenen zu. Aber nicht alles, was ihm zustand, konnte er auch abrufen, abholen. Die Geschichte war keine Markthalle. Der Markenbezieher, der Bezugsberechtigte magerte ab, schrumpfte, schmolz auf eine karge, knöcherne Gestalt, und er fror. Vielleicht wärmte man sich gegenseitig, wenn man es konnte oder mußte. Der Schock über diesen eisigen Winter saß noch in den Knochen, die Dreisens sagten es und auch die Beisitzer im Landgericht im darauffolgenden Winter. Vielleicht würde der Rhein wieder zufrieren, nicht nur seine toten Arme, vielleicht könnte man zur Bettbergaue gehen, in die Inseleinsamkeit, „übers Eis“ gehen, davor wurde natürlich offiziell gewarnt. Kinder fanden irgendwo Kufen, die sie sich unter schlechten Halbschuhen festbanden, ohne einen wirklichen Halt für die empfindlichen Knöchel, sie rammten auch alte Schlitten aus den Kellern und Schuppen über die Eisflächen und schlitterten bäuchlings auf der glatten Fläche. Es war ein großes Vergnügen, ein kostenloses, freies, ja anarchisches

Weitere Kostenlose Bücher