Landgericht
Groll gegen die Besatzer war am Eßtisch groß. Am 9. Juli 1945 hatten die Amerikaner den Franzosen Mainz übergeben. Fahrräder wurden requiriert und Fleisch. Die Metzger durften nur die Knochen und die Innereien zur Wurstherstellung behalten. Auch Holz aus den Wäldern wurde im Auftrag der Franzosen vermehrt geschlagen und abtransportiert. Der gesamte Weinbestand des Jahres 1947 war beschlagnahmt worden. Man munkelte, so erzählte man am Tisch bei den Dreisens, der Befehlshaber der 1. Französischen Armee residiere in Baden-Baden wie ein ungekrönter Operettenkönig und lasse sich von zweitausend fackeltragenden marokkanischen Reitern heimleuchten. Seltsam, im unzerstörten Lindau hatte Kornitzer solche Schauergeschichten nicht gehört. Das kleine Mädchen schlief vor Langeweile ein, darin war auch etwas Befreiendes, und Evamaria mußte von Benno ins obere Stockwerk getragen werden. Die Erwachsenen sprachen lang und breit am Küchentisch: nicht über die Ursachen der Misere, sondern über ihre natürlichen Konsequenzen.
Ehe das Schweigen peinlich werden konnte, fragte der Freund der Familie, der mit großem Respekt behandelt wurde: Seid ihr denn mit Brand versorgt? In seinem Ton war eine Art von Fürsorglichkeit, die auffallend war. Kornitzer verstand nicht gleich, was er damit meinte. Das Wort „Brand“ war für ihn ein Feuerwehrwort. Ein Brand brach aus, aber ein Brand war nichts, das man im Haus hütete, mit dem man „versorgt“ war. Dann begriff er doch. Es ging darum, ob es genügend Heizmaterial gab für den kommenden Herbst und Winter. Nein, sagte der alte Dreis mit Würde, wir haben nichts, keine Kohlen, auch keine Zuteilung. Den alten Tisch, den wir als letztes hätten verheizen können, haben wir unserem Mieter ins Zimmer gestellt. Nicht wahr, Herr Dr. Kornitzer?, wandte er sich plötzlich an den Gast. Sollen wir denn unser Treppengeländer verheizen, damit wir uns alle im Dunklen zu Tode stürzen? Und dann blickte er in die Runde: Ich gehe wohl in den Wald.
War das ein Vorwurf, oder mußte Kornitzer sich sofort bedanken, daß er einen Tisch bekommen hatte, einen Tisch, von dem er den Eindruck hatte, er müsse ihn schonen, damit er nicht unter der Aktenlast zusammenbrach, damit er nicht zum Heizmaterial erklärt wurde, Tischtuch hin oder her? Ja, mischte sich Kornitzer ein, was wird, wenn es richtig kalt wird? Er hatte bis jetzt den kleinen Ofen und das lange Ofenrohr mit Respekt und Sympathie betrachtet, wie ein dunkles Schmuckstück, aber er hatte niemals in Berlin einen Ofen geheizt. Die eheliche Wohnung in der Cicerostraße hatte Zentralheizung, an Studentenbuden erinnerte er sich nicht mehr wirklich, und früher in seiner Kindheit in Breslau hatte ein Mädchen die Öfen bedient. Ja, was wird?, sagte bedenkenträgerisch der alte Herr Dreis. Ich habe eine Axt, die kann ich Ihnen leihen, und dann gehen Sie auf den Großen Sand und holen sich Holz. Kornitzer war ein bißchen fassungslos. Er hatte noch nie eine Axt in der Hand gehabt, er hielt eine Axt eher für ein feindliches, aggressives Instrument, das nur in die Hand (Faust?) von Spezialisten gehörte, Holzfällern. Ist das denn ein Gemeindewald auf dem Großen Sand? Ist er freigegeben?, fragte er. Die alte Frau Dreis hob eine Hand und ließ sie resignativ auf das gestärkte Tischtuch fallen, ein Klecks Löwenzahngemüse fiel dabei vom Schüsselrand auf die Decke, aber das machte nichts. Kornitzer fragte noch einmal nachdrücklich, wie er in einer Gerichtsverhandlung die Prozeßgegner fragen würde: Ist es ein Gemeindewald, und ist er zum Fällen freigegeben? Wer weiß, sagte der alte Dreis und lachte. Und Benno: Wer will das jetzt wissen? Jedenfalls gibt es genügend Holz, und es ist nicht weit.
Anarchie in der Domstadt, das Recht der Faust und der Axt. Der Familie, die um den Tisch versammelt war, kamen seine Argumente wohl hinterwäldlerisch oder allzu zartfühlend vor. Und Kornitzer, dem es jetzt auch warm wurde in der großen Runde, räusperte sich, er hätte gerne etwas über das Faustrecht gesagt, denn um das handelte es sich ja, auch über die Verbindlichkeit einer demokratischen Rechtsordnung, fand dies aber vollkommen unpassend als ein Gast der Familie, der sich gerade ordentlich satt gegessen hatte, und schwieg, halb gegen seine eigene Überzeugung. Es war ein diplomatisches Schweigen oder doch eher ein furchtsames. Es stieß sich an der vorläufigen Behaglichkeit, in der er sich eingerichtet hatte. Er sah sich schon selbst mit der
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