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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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Vergnügen, das allen, die daran teilhatten und es bestaunten, im Gedächtnis blieb. Es waren auch schon Unfälle passiert, Eisgänger waren eingebrochen und gurgelnd untergegangen. Die Warnschilder nutzten nicht viel, das Eis, auf eigene Verantwortung zu betreten, war auch ein Glück, das niemand sich so einfach nehmen lassen wollte. Welches Unglück, welche Niederlage war in den letzten fünfzehn Jahren ohne eigene Verantwortung möglich? Jeder war hineingerissen in ein kollektives Denken und Empfinden, so war vielleicht der individuelle Entschluß, aufs ungesicherte Eis zu gehen, sich einen Knöchel zu brechen und/oder unterzugehen, ein Akt der Selbstbehauptung, ein freudiger Entschluß. Kornitzer ging nicht aufs Eis, das war er aus Berlin, von den vielen Havelarmen und den Kanälen nicht gewohnt. Die Fließgeschwindigkeit war unsicher, die Dicke der Eisschicht konnte nach einer Biegung des Kanals eine ganz andere sein als vor der Biegung. Kähne schnitten in die noch unfeste Eismasse und wirbelten sie wieder auf. Man hätte an tausend Stellen gleichzeitig messen müssen, und das war in der Großstadt nicht zu leisten. Vielleicht waren die Berliner auch ihres Lebens prinzipiell unsicherer; oder sie legten es nicht so ostentativ in Gottes Hand.
    Hier in Mainz – das hatte er gleich gemerkt – war die Mentalität lockerer, schusseliger, achselzuckend. Und so wußte er nicht, ob sein Kohlenvorrat schwand, weil er es warm haben wollte bei der abendlichen Arbeit, oder ob jemand laumeierte und nicht übermäßig viele Kohlen nahm, aber doch so viele, daß Kornitzer zweifelte, ob seine Wahrnehmung des gestrigen, vorgestrigen Kohlenhaufens wirklich war oder ob er sich in einer Art von Ängstlichkeit, die sich rasch zu einer Paranoia auswachsen könnte, gründlich täuschte. Also unternahm er nichts, riß sich selbst aus dem unfruchtbaren Grübeln. Er dachte aber darüber nach, ob er als Mieter die freundliche Abendeinladung der Vermieter nicht erwidern müsse, ob seine Frau dazu kommen müsse, um tatkräftig Dinge in die Wege zu leiten, die ihm vollkommen fremd waren. Und wieder telegraphierte er an Claire am Bodensee:
Willst du kommen Stop Dein Kommen sehr erwünscht Stop Richard
. Die Liebesfloskel, die er nach kurzem Bedenken ausließ, sparte ihm Geld, vielleicht mußte Claire das Telegramm auch vor Zeugen lesen. Aber der Verzicht auf das Persönliche ließ das Telegramm auch sehr harsch wirken. Ein Brief hätte, da hatte er sich kundig gemacht, sieben bis zehn Tage gedauert, die Sehnsucht des Ehepaares nach einer Gemeinsamkeit wäre wie ein Sehnsuchtstropfen verdampft. Er schickte das Telegramm ab und war nicht glücklich darüber. Und sie antwortete ihm auch in einem Telegramm:

Kommen unmöglich Stop Brief folgt Stop“. Das machte auch nicht glücklich, aber wie nach einem Warum und nach einer Befindlichkeit fragen. So war keine Klarheit zu schaffen. So war gleichzeitig keine Ehe zu führen. Das war mit Händen zu greifen. Und so war auch keiner Gastfreundschaft gastlich zu antworten als ein Mann in einer Dachstube, zu höheren Aufgaben befähigt, mit einem wackligen Tisch, auf dem ein weißes Tischtuch lag, was ihm lästig war. Und daß es so war, machte ihn traurig. Die Folge war, daß er den weißgestärkten, bretterhart gedeckten Tisch an diesem Abend übermäßig früh verließ und ins Bett kroch, wie ein beschädigter, ein sein Geschädigtsein nicht anerkennender Mensch, mit anderen Worten: wie ein trotziges Kind, das sich verkriecht und hofft, eine liebende, warme Hand führe über die Decke, eine beschwörende Stimme sagte: Nun ist es wieder gut, komm doch, im Zimmer ist der Tisch gedeckt, es gibt Schokoladenkuchen, und du darfst dir das größte Stück aussuchen. So war es vielleicht mal in Breslau gewesen, aber so würde es nie mehr sein, weder für ihn, weder für Claire, aber vielleicht noch einmal für Georg oder Selma, sie beide waren zu groß und zu fremd geworden für so eine herzerwärmende, tröstende Geste. Und diese Gewißheit der Ausgesetztheit, nicht nur des Fehlens jeder persönlichen Sentimentalität, sondern auch das Abgeschnittensein von den wirklichen Gefühlen, den Erinnerungen, der Freude, Familienvater und Gastgeber gewesen zu sein, drängte sich jetzt in seinem Gedächtnis unangenehm, ja schmerzhaft vor: Das Geben war verloren, es war ein Inbegriff anderer Verluste, die er jetzt gar nicht bedachte. Und es gab eine andere Bewegung, die ihn ergriff (Gemütsbewegung?), eine

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