Landgericht
ließ die Pegelstände der Flüsse so stark sinken, daß die Schiffstransporte schließlich bis in den November unmöglich waren
. Vielleicht war auch Wichtigeres zu transportieren, dachte sich Kornitzer.
Es war bekümmernswert, als die Glocken konfisziert worden waren, aber darüber konnte man nicht trauern. Und nun waren sie wieder da, kurz vor Weihnachten, um genau zu sein, am 22. Dezember um 13 Uhr, auf den hohen Wellen des Flusses gekommen, vor dem Eis und bevor die Schollen sich übereinanderschoben wie Blätter aus einem Block, die abgerissen worden waren. Ein Schiffer legte die Bohlen aus – vom Schiff auf das trockene Land. Es war so kalt, daß kaum andere Schiffe löschten, zu laden war nichts. Auch die Lagergebäude am Hafen waren stark beschädigt, aber die Schienen der Kräne waren noch da. Auf Pferdefuhrwerken holten die Gemeinden ihre Glocken im Hafen ab. Das war ein schönes Spektakel in der gleißenden Winterkälte. Die Pferdeleiber dampften, die Pferdenasen schnaubten, die Pferdehinterteile äppelten, all das war warm und strahlte in der bitteren Kälte eine Art von gewohnter Sicherheit aus. Kräne, Flaschenzüge waren mit den einfachsten Mitteln in Bewegung gesetzt worden. Es war ein archaisches Bild: Erwartung und Heimkehr.
Festlich holten die Gemeinden die Glocken aus dem Rhein-Hafen heim
, so berichtete am nächsten Tag die Zeitung, und so war es auch, obwohl Kornitzer nicht übermäßig festlich gestimmt war, aber das Empfinden der Menge, in der er fröstelnd stand, ließ ihn nicht unbeeindruckt; es vereinsamte ihn auch. Der Priester stand im Ornat an der Kaimauer, unter dem Chorrock war eine dicke Wolljacke sichtbar, nun traten die Meßdiener etwas verspätet an das Ufer, sie mußten sich durch die Menge kämpfen, und alle standen bibbernd und fröstelnd da, manche mit einem Schal, der aus der Meßdienertracht hervorschaute, eine sorgsame Mutter hatte ihn wohl rasch umgebunden, sie starrten auf das erste Schiff und das zweite in der Mitte des Flusses, das noch nicht anlegen konnte und im Hintergrund wartete. Der Priester sprach Worte der Begrüßung, der Hoffnung, daß mit den alten Glocken ein neuer Ton angeschlagen würde, wieder ein Gebet, ein Meßdiener trug den Weihwasserkessel, in dem das Weihwasser in der Kälte beinahe gefror, ein anderer schwenkte einen Weihrauchkessel, Weihwasser und Weihrauch, eine Übermacht der Feierlichkeit. Schließlich stimmten weiter hinten zwei Frauen mit kräftigen Stimmen ein Kirchenlied an:
Gro-ßer Go-hott, wir lo-ho-ben dich,
He-herr, wir prei-hei-sen dei-hei-ne Stä-ärke,
Vor dir nei-heigt die E-her-de sich
Und bewu-hun-dert dei-hei-ne We-erke …
Es war eine Woge, die die Menge überrollte, und das Singen wurde lauter, es war eine Befreiung von der Kälte und von der Beklommenheit, eine Erleichterung. Masse und Macht in der beißenden Kälte. Schön war’s, sagte Herr Dreis später, als am Abend Kornitzer in das Siedlungshaus kam, und Kornitzer hatte keinen Grund zu widersprechen.
Sehnsucht
Als Kornitzer Bettnang verlassen hatte, überfiel Claire die Einsamkeit wie ein feuchtes Tuch. Sie blieb tagelang im Bett, betrachtete finster ihre Füße mit den Frostbeulenschäden und verkroch sich. Frau Pfempfle, die genügend in der Küche, im Stall und auf den Obstwiesen zu tun hatte, brachte ihr Essen, Apfelpfannkuchen mit Zucker und Zimt, Dickmilch mit Apfelmus, eine geräucherte Wurst mit Kartoffelschnee, und als Nachtisch wieder ein Apfelmus, in dem ein paar frisch geerntete Brombeeren steckten. Schönes, einfaches Essen, das Claire mit Rührung erfüllte, das sie aber kaum anrührte: Nur aus Höflichkeit stocherte sie ein wenig darin herum. Dann schickte Frau Pfempfle ihren jüngsten Sohn, den Tänzer, mit einem an Claire adressierten Brief hinauf in die Dachkammer. Es war wie eine Steigerung, eine einfach strukturierte Inszenierung: Nun stehen Sie endlich wieder auf.
Schon den Absender des Briefes zu entziffern, elektrisierte sie. Sie riß den Umschlag auf und las. Die Kinder waren gefunden worden. Das Rote Kreuz, an das sie sich gleich nach Kriegsende gewandt hatte, ebenso wie sie den Aufruf zur Meldung
deutscher Bürger jüdischer Konfession
des Landkreises beantwortet hatte, war nach dem Anschreiben der ersten Pflegefamilie in England fündig geworden, und es hatte die Auskunft erhalten, die Kinder seien von dort in ein Heim gekommen. (Davor graute Claire: Die Kinder in einem Heim.) Aus diesem Heim seien sie zu einer zweiten Familie
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