Landgericht
dreist.
Auch schienen Kornitzer jetzt ihre Augenbrauen nicht mehr so arrogant, sondern eher fein gezeichnet, sensibel fast. Ihr Vorname Barbara war ihm beiläufig auf einem Treppenabsatz aufgenötigt worden, und er hätte ihn am liebsten gleich wieder vergessen, hätte es im Familienraum nicht plötzlich inflationär nach ihm geschallt. Irgendwie hatte er, vielleicht schon im Reden des alten Herrn Dreis und im Schweigen der alten Frau Dreis (doch, ihr Käsekuchen war eine große Befriedung seiner schwierigen Situation gewesen, für die er ihr überschwenglich gedankt hatte) bemerkt, wie dürftig, bedürftig, wie zerbrechlich seine „Familienzusammenführung“ gewirkt hatte. Aber er hatte auch rasch begriffen, daß es nur eines Blicks (seines gesunden Menschenverstandes?) bedurfte, um aus den ungefähren Wahrnehmungen zu einer ästhetischen und ethischen Gewißheit zu gelangen. Um es kurz zu sagen: Nachdem Mrs. Hales und Claire und Selma zu Gast im Haus gewesen waren, hatte er das untrügliche Empfinden, Barbara Dreis stelle ihm nach. Das war nicht beweisbar, auch nicht strafbar, eher menschlich verständlich. Allzu häufig sah er zusammengenestelte Morgenröcke, Haar, das frisch gewaschen, lasziv am Ofen getrocknet wurde, er sah nackte Füße, Beine mit feinen blauen Äderchen in der Kniekehle, die hochgelegt worden waren auf eine Stuhllehne. Er sah Blicke aus dem Augenwinkel, die ihn trafen, und Blicke geradeaus, die ihn verschlangen und auch trafen. Er hatte auch gesehen, wie Benno Dreis, das nervöse Bürschchen, das Kornitzer eigentlich unheimlich war, seine Schwägerin auf einem Treppensatz um die Hüfte nahm, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. Und er hatte auch gesehen, wie die alte Frau Dreis und die junge Frau Dreis am Sonntagmorgen beim Glockenläuten aus dem Haus zur Kirche gingen, zwischen ihnen Evamaria in einem frisch gestärkten Kleidchen, die alte Frau Dreis trug einen würdigen Topfhut, die junge Frau Dreis ging hoch erhobenen Hauptes und strich sich mit der Hand, die einen Häkelhandschuh trug, über ihr frisch gewaschenes, fliegendes Haar. Und er erinnerte sich an den schnellen, hochmütigen Blick, den er aufgefangen hatte, als die junge Frau Dreis die rosige, freundliche Mrs. Hales, Claire mit ihrem sorgengepeinigten Gesicht und die ungelenke Selma in der Kaffeerunde im Wohnzimmer begrüßt hatte. Claires geschwollene Beine unter dem Tisch hatte sie vermutlich nicht gesehen. Der Blick, der ihn streifte, war nicht hochmütig, sondern eher ein wenig mitleidig wie: Na, mit so viel Problemen geben Sie sich ab. Zwei alte Schachteln und dieses Mädchen. Sie, Barbara Dreis, die hinter ihrer glatten Stirn nicht sehen ließ, was sie dachte (ja, was, dachte sie überhaupt, und was hatte sie ein paar Jahre früher gedacht, als die SA durch Mombach marschierte?), zeigte überdeutlich, was sie fühlte: Hier bin ich, selbstbewußt, durch die Umstände allein, und da sind Sie, Herr Doktor Kornitzer, aus dem Leben gefallen und bei uns gestrandet. Und Evamaria mag Sie auch. Es ist eine ganz einfache Sache, eine Milchmädchenrechnung. Berechnung und Leidenschaft. Es war nur nicht ganz klar, wie aus dem Sehnen, aus ihrer Gefühlslogik eine Wirklichkeit werden könnte. Sie wartete, daß er handelte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihm nicht gefiel. Das war eine kränkende Phantasielosigkeit. Es war Zeit, daß er auszog. Eine strahlende Claire werkelt dann im neuen Haus, nichts ist ihr zu viel. Sie ist früher in Berlin keine begnadete Hausfrau gewesen, eigentlich gar keine, nun fummelt sie mit Bürsten und Schabern, um die Farbspritzer, die die Handwerker auf den Fenstern und Böden gelassen haben, zu tilgen. Sie kauft ein Rezeptbuch und einen Sahnequirl. Die Arbeit in der Molkerei am Bodensee, wo Milch und Honig fließen, hat eine Spur gelassen. Als die Kinder sich für die Ferien ankündigen, ist es ein Aufatmen und eine Anspannung zugleich. Claire überlegt sich, was ihnen gefallen könnte, rückt die Möbel in den Räumen mit den schrägen Wänden hin und her, kauft einen Globus für George (ja, sie arrangiert sich demütig mit seinem englischen Namen), kauft eine Druckgraphik mit Pferden von Franz Marc für Selma, läßt von einem Dekorateur die Gardinen aufhängen. Alles ist Erwartung, alles ist Sorge, daß es den fast erwachsenen englischen Kindern bei ihren deutschen Eltern nicht gefiele, daß sie Angst hätten vor Deutschland und seinen Bewohnern.
Der Sommeraufenthalt der Kinder
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