Landgericht
wartete, freute sich, daß er kam, und hatte das Abendbrot vorbereitet. Dann erinnerte er sich wieder, daß es keinesfalls so gewesen war, bevor er emigrierte, Claires Berufstätigkeit hatte sich häufig bis in den späten Abend hineingezogen, und er als der junge Richter war viel häufiger zuhause, wenn Georg und die kleine Selma ins Bett gebracht und beruhigt werden mußten, und er erinnerte sich mit Freude an diese Situation.
Er war nun Vorsitzender der 2. Zivilkammer am Landgericht, er saß seinem eigenen Leben vor, und das begeisterte ihn. Es paßte zu dieser Begeisterung, daß er einen Anruf der Stabsstelle „Opfer des Faschismus“, angesiedelt beim Oberbürgermeisteramt, bekam, ob er ein Haus haben wolle, ein neu erbautes Haus, ein Holzständerhaus in einer Siedlung, in der vorwiegend französische Besatzungsoffiziere lebten, zufälligerweise ganz in der Nähe der Familie Dreis im selben Stadtteil gelegen. Er sah sich den Rohbau an, die Arbeiter in ihren Leibchen oder mit ihren nackten sonnengebräunten Rücken, wie sie sich bückten und streckten, er sah das Mauern Stein auf Stein auch in der Nachbarschaft, das Hämmern und Klopfen, die tüchtige Geschäftigkeit. Holzschindeln wurden an der Giebelseite angebracht, ein Tischler lieferte auf einem kleinen Lastwagen Fensterläden. Hinter Klappläden hatte er noch nie gelebt, er stellte sich eine abendlich winterliche Ruhe vor, Geborgenheit, das Haus barg ihn, und er barg die Familie, so gut es eben ging.
Ja, er wollte das Haus, er sagte sofort zu, er freute sich unendlich. Claire käme, Georg und Selma hätten jeweils einen Raum für sich und er ein Arbeitszimmer. Er hatte den Sohn und die Tochter einige Male in Suffolk besucht, es war eine klamme Situation, viel Aufwand, Gefühlsaufwand und Kummer, eine teure Reise. Ob es gut für Georg und Selma war, wußte er nicht zu sagen. Er kam jedenfalls erschöpft von der Überanpassung zurück. Sich für die nächsten Gerichtstermine vorzubereiten, war fast eine Wohltat, klare Strukturen, Gesetze. Zweimal in der Woche tagte die Kammer, dieser Rhythmus ging ihm in Fleisch und Blut über. Im Umgang mit seinen Kindern tastete er nur, er wollte nichts falsch machen und ihnen die Angst vor Deutschland nehmen. Ob ihm das gelänge, wußte er selbst nicht. Und ob seine Ernennung zum Landgerichtsdirektor und das Angebot für das Haus in einem Zusammenhang standen, erfragte er nicht, es wäre ihm unangenehm gewesen. Nur: Der Landgerichtsdirektor konnte nicht auf Dauer bei einfachen Menschen in Untermiete leben, das paßte nicht, verletzte möglicherweise die Würde des Gerichts. Es war nicht „standesgemäß“. Mit seinem Gehaltsnachweis verhandelte er, Hypotheken, Kredite, ein wenig schwindelte ihm in der Bank, aber es gefiel ihm auch. Grund und Boden, ein Gärtchen, bis jetzt hatte er nur die Spaziergänge am Rhein entlang gemocht, das würde anders, er würde heimisch in Mainz. Claire, mit der er jetzt der neuen Entwicklungen wegen häufig telephonierte, lachte am anderen Ende der Leitung, gluckste, kam nach Mainz, freudig, vorfreudig. Sie sahen sich Möbel an und Gardinen mit geometrischen Mustern, bei denen einem schwindlig werden konnte. Sie kauften einen Herd und einen Staubsauger. Claire ereiferte sich über Teesiebe und Milchkännchen, diese nützlichen Anschaffungen erinnerten sie an die Zeit in Berlin, kurz vor ihrer Hochzeit, an das Glück, sich gefunden zu haben, und den Entschluß zu einem gemeinsamen Leben. Jetzt sah es aus, als hätten sie eine zweite Chance. Nein, es war wirklich eine zweite Chance, und Bettnang, Claires Zimmerchen im Dachgeschoß, war nur ein Üben, eine noch zaghaft gedachte Lebensform gewesen, der endlich eine gültigere folgte.
Kornitzer schrieb an Georg und Selma, noch immer konnte er sich nicht entschließen, seinen Sohn mit George anzureden, wie der es wollte, schrieb ihnen von dem Haus, der größeren Freiheit, dem Komfort und lud sie ein. Das Holzschindelhaus war ein Glück, ein schneckenhäusiges Glück hinter zugezogenen Gardinen, und Claire war ein Glück.
Er sprach mit der Familie Dreis, kündigte formvollendet seinen Untermietvertrag, alles war in Ordnung, man gratulierte ihm zu dem Haus, und zu dem, was die Familie „Familienzusammenführung“ nannte. Und Kornitzer sagte in aller Strenge und in preußischer Nüchternheit: Nun ja, zunächst handelt es sich ja nur darum, daß meine Frau und ich endlich wieder ein normales Ehepaar werden. Wie sich die Sache mit den Kindern
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