Landgericht
Dehnung und Zerrung nach Belieben in Havanna waren schmerzhaft genug gewesen. Kubanische Gummiparagraphen, Kautschukgesetze, die auszulegen waren nach verschiedenen Interessen, und vor allem den Interessen, bei denen Geldscheine über den Tisch geschoben wurden, schöne Floskeln auf dem Papier, die im Zweifelsfall das Papier nicht wert waren, auf dem sie gedruckt waren. Gesetze, die der aufrechte Jurist nicht liebt. Er spürte die Erschütterung immer noch, er war traurig und auch gleichzeitig mit sich zufrieden, und der Widerspruch störte nicht wirklich. Er hätte sich den Widerspruch wie eine Postkarte hinter den Spiegel klemmen müssen. Aber einen solchen Spiegel gab es nicht, und deshalb vergaß er auch den Widerspruch. Er sah von sich ab.
Als er zum Landgerichtsdirektor ernannt wurde, freute es ihn. Es paßte gut in diese Phase der gesteigerten Aktivität. Er hatte nun mehr Verantwortung, sein Gehalt stieg, er hätte Sprünge machen können, wenn er es wollte. Aber Sprünge wohin? Daß seine erstaunlich rasche Ernennung zum Landgerichtsdirektor eine berufliche Wiedergutmachung war, daß die ihm entgangenen Berufsjahre als Richter angerechnet wurden, sah er klar, und er war dankbar dafür. Wäre er als Rechtsanwalt vom Berufsverbot betroffen gewesen oder in einem anderen freien Beruf, er hätte unzählige Nachweise über seinen Verdienst vorlegen müssen, und wenn die nicht beizubringen waren, eidesstattliche Erklärungen. Und wer wußte noch wirklich, was er an Honoraren vor fünfzehn Jahren eingenommen hatte? (Insofern hatte Kornitzer als Richter Glück. Richter konnten sich in andere Richter hineinversetzen, so einigermaßen, glaubte er jedenfalls. Und die Gehaltsstufen und Gehaltsklassen waren allgemein bekannt und nachvollziehbar.)
Lieber wäre Kornitzer nach der Zeit im Untersuchungsausschuß in Lindau Vorsitzender einer Entschädigungskammer am Landgericht geworden, es gab zwei davon: In seiner eigenen Vorstellung war er dazu prädestiniert, Verfolgten zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber ihn in einer Entschädigungskammer einzusetzen, auch nur als Beisitzer – das hatte ihm der Landgerichtspräsident schon in den ersten Tagen nach seiner Berufung nach Mainz gesagt – komme nicht in Frage, er sei ja Partei. Ihn hatte dieses Verdikt wie ein Keulenschlag getroffen. Weil er Jude war, weil er verfolgt worden war, weil ihm Wiedergutmachungsleistungen zustanden, war er Partei. Und diejenigen Richter, die Mitglieder der nationalsozialistischen Partei gewesen waren, waren nicht Partei, waren befugt und besser geeignet, über Wiedergutmachungsleistungen zu urteilen. Er wußte ja nicht viel über den Werdegang seiner Kollegen am Landgericht, das war gut so oder auch nicht. Es gehörte sich nicht, nach der Vergangenheit zu fragen. Massenhaft praktizierte Diskretion schien der Weg zu sein, Vergangenheit zu beschwichtigen und aus dem Bewußtsein zu tilgen. Auch seine Vergangenheit war ein Tabu, niemand fragte. Jetzt war jetzt, das Tägliche drängte. Und so war ihm der Mund verschlossen. Im Lichte der Vergangenheit verdunkelte sich die Gegenwart. Kornitzer stand vor einem ungeschriebenen Gesetz, er war ein tadelloser Richter und fühlte sich verurteilt, aber er kannte seine Strafe nicht. Sie nicht zu kennen, war eine Potenzierung der Strafe. Also arbeitete er, vertiefte sich in Akten, bereitete Urteile vor und formulierte sie. Rechtsstaatlichkeit, rechtsstaatliche Normalität, daran war nicht zu zweifeln, darum war er Richter geworden und wollte es immer bleiben. Über ihn wurde auch gerichtet, getuschelt, er spürte das. Als sich ihm dann nach seiner Ernennung die Hände seiner Kollegen zur Gratulation entgegenstreckten, von tief unten aus dem Selbstfahrer die des Grundbuchrichters Dr. Funk, als er über den Händen die zusammengekniffenen Mundwinkel sah, die scharfen Falten um die Augen bei Dr. Buch, zweifelte er wieder an der Möglichkeit der Einfühlung. Nein, sie versetzten sich nicht in seine Lage, viele neideten ihm die rasche Ernennung, das war deutlich, blieb aber unausgesprochen. Er wollte das übersehen in seiner Freude. Ihm fiel das Wort „aalglatt“ ein, und er wollte es sofort wieder aus seinem Gedächtnis tilgen. Polemik war nicht am Platz, er war Richter, und er war unabhängig.
Und er wollte, daß Claire nach Mainz käme und die elende, sie langweilende Arbeit in der Molkerei aufgäbe. Endlich ein gemeinsamer Hausstand, endlich Ruhe, das Glück, nach Hause zu kommen, und da wäre seine Frau und
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