Landgericht
weinseligen Dörfer und Städtchen, sie kraxelt auf Burgen, sie wandert auf Weinbergspfaden, bei großer Hitze macht sie sich auf den Weg von der Bahnstation Oppenheim im Tal zur Katharinenkirche. Kornitzer hat in einem Reiseführer von dem Beinhaus gelesen. Von 1400 bis 1750, also dreihundertfünfzig Jahre, haben die Oppenheimer die Gebeine ihrer Toten hierhin, in die Michaelskapelle, umgebettet. Es müssen um die 20.000 Menschen gewesen sein, hat Kornitzer sich gemerkt. Nach einer Ruhezeit in einem Grab auf dem engen Friedhof am Hang wurden die Gebeine der Toten wieder ausgegraben, um Platz für neue Verstorbene zu schaffen. Nur zehn Jahre durften die Toten in der geweihten Erde ruhen, dann war Schluß, und sie zogen ins Beinhaus um. War die Erde außerhalb des Friedhofs, auf der seit Jahrhunderten Wein wuchs und prachtvoll gedieh, ein sehr berühmter Wein, war die Erde zu kostbar, sie dem Friedhof zuzuschlagen, wenigstens nur in einem schmalen Streifen, natürlich nicht den ganzen sonnigen Hang hinunter? Solche Gedanken zwischen oder besser: außerhalb der Religionen will sich Kornitzer nicht machen, aber sie kommen von selbst. Er erzählt den Kindern von der alten jüdischen Geschichte des Städtchens, von Speyer und von Worms, er weiß ja selbst nichts Wirkliches darüber, er muß es nachschlagen, nachlesen, nachbeten; und er ist nicht sonderlich gut in diesen Nachhilfeleistungen. Von Breslau, von Berlin aus war die jüdisch-rheinische Geschichte Jahrmillionen weit weg, ja, so drastisch mußte man es ausdrücken. Es gab keinen verbindenden Gedanken außer dem, daß blühende Gemeinden gewaltsam zerstört worden und daß einige ihrer Mitglieder zu Rang und Namen gekommen waren. Kornitzer spricht, ja er doziert über die jüdischen Namen Oppenheim oder auch Oppenheimer. Aber die Kinder, die großen Kinder, schauen ihn unbeeindruckt an, sie haben diese Namen nie gehört, und sie scheinen sie auch nicht sonderlich zu interessieren. Die Sommerhitze, das klamme Steigen den Berg hoch interessiert sie, ein Gasthaus könnte sie interessieren. Er erzählt vieles, was er auch nur so ungefähr weiß, er haspelt darüber hinweg. Es ist ja nur ein Familienausflug, und die Kinder sollen „etwas“ mit nach England nehmen, etwas von der gewaltsamen Schönheit der Landschaft, etwas vom Mythos des Rheins, den Kornitzer auch erst in seinem nicht mehr jungen Alter entdeckt.
Und wirklich: Sie finden die Kapelle, und sie ist sogar geöffnet. Bleiche Totenruhe, Schädelmuster in einer soliden Ordnung, die ornamentale Anordnung der langen Knochen der Extremitäten und der Schädel der Toten. Aus den dunklen Augenhöhlen starren sie. Jeder Knochen hat seinen Platz, als wäre über die Jahrhunderte keiner verlorengegangen. Kornitzer hat eine solche Schädelstätte noch nie gesehen und ist beeindruckt. Dann blickt er zu Selma hinüber, die zu zittern begonnen hat, wie bei ihrem ersten Besuch in Mainz. Was hast du denn, Selma? Sie beißt die Lippen aufeinander, dann bricht es stoßweise aus ihr heraus: Zuerst mördern sie Leute, und dann stellen sie die Knochen aus. So sind die Deutschen. Es heißt nicht mördern, es heißt morden, verbessert sie Claire. Aber Kornitzer legt seiner Frau eine Hand auf den Arm: Jetzt nicht. Er wendet sich wieder Selma zu: Es sind ganz normale Tote aus dem Städtchen. Sie sind nicht gemordet worden, sie sind eines natürlichen Todes gestorben. Aber Selma will nicht zuhören. Es sind Juden, es sind Juden, ruft sie gepreßt. Man hat sie gemördert und ist stolz darauf. Es braucht viel Zeit, um Selma wieder zu beruhigen und von ihrer fixen Idee abzubringen. Die Kühle der riesigen spätgotischen Kirche umfängt sie, sie tauchen in ein Orgelkonzert, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Während die Musik perlt und strömt, beginnt Claire plötzlich zu weinen, die Anspannung ist so groß, sie hat das Muttersein fast verlernt, und dieser junge Mann und das große Mädchen brauchen auch keine Mutter mehr. Vorbei.
Und dann sind auch die Sommerferien vorbei, die Koffer werden gepackt, George hat zugenommen, er zeigt sein ausgeleiertes Gürtelschlaufenloch vor und macht ein komisches Gesicht, halb vorwurfsvoll, halb stolz. Und Selma hat sicher auch zugenommen, aber sie will es nicht wahrhaben, und ihre Eltern auch nicht. Selma und George nehmen Geschenke mit, deutsche Bücher, Schallplatten und einen Pullover für den Herbst. Kornitzer bringt die Kinder zum Bahnhof. Als er sich nach dem Winken abwendet und
Weitere Kostenlose Bücher