Landkarten des Lebens
nun hatte ich keine Ahnung mehr, wer er war. Wir hatten uns entfremdet. Ich wusste nicht, wie er lebte, wusste nicht, was ihn beschäftigte, kannte seine neue Frau nicht. Und ich wusste nicht, ob es zwischen uns jemals wieder so werden würde wie früher. Zu lange waren wir nicht auf unserem gemeinsamen Weg gegangen. Wir hatten zugelassen, dass dieser Weg ebenso überwuchert wurde wie der, auf dem ich gerade unterwegs war. Mein Freund schien dies ebenfalls zu spüren und auch den Baumstamm, der uns immer noch im Weg lag. Denn was sonst hielt ihn davon ab, mich tatsächlich zu besuchen und meinen Geburtstag mit mir zu feiern?
Heute hänge ich nicht mehr an dieser Freundschaft, sie ist für mich definitiv beendet. Und weil das so ist, möchte ich sie auch aktiv „begraben“, diese Freundschaft. Ich werde mir dafür ein Symbol suchen, vielleicht einen schönen Stein, und diesen Stein werde ich an einem friedlichen Platz in unserem Garten ablegen. Dann kann Gras darüber wachsen.
Auf unserem Weg über den Wiesenpfad fiel mir noch ein anderer Freund ein: Er ist eigentlich Künstler, folgt aber nicht seiner Berufung, sondern arbeitet als Pastor einer Gemeinde, in der er extrem unglücklich ist. Die finanzielle Sicherheit, die diese Aufgabe ihm bietet, bezahlt er mit massiven Bandscheibenproblemen und daraus resultierenden Schmerzen. Als er wieder einmal von Schmerzen so sehr geplagt war, dass er von Arzt zu Arzt rannte, um endlich jemanden zu finden, der ihn operierte – denn beileibe nicht alle Ärzte waren davon überzeugt, dass die riskante Operation sein Leid lindern würde –, riet ich ihm, sich endlich seiner wahren Berufung zu stellen und den Verwaltungsjob aufzugeben. Ich fühlte mich nicht wirklich wohl dabei, denn ich war mir nicht sicher, ob mein Verhalten nicht vielleicht doch unangemessen war. Schließlich war seine Erkrankung seine höchst persönliche Angelegenheit, die niemanden etwas anging. Aber so groß mein Unwohlsein auch sein mochte – noch größer war meine Überzeugung, dass mein Freund mit dieser OP eine Abkürzung gehen würde. Und zwar eine, die ihn auf seinem Weg zu einem erfüllenden und schmerzfreien Leben kein Stück weiterbringen würde. Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen, die Operation steht noch aus.
Die gescheiterte Ehe des einen, die Bandscheibenvorfälle des anderen Freundes: Es sind Baumstämme, Blockaden auf ihren jeweiligen Lebenswegen. Ich glaube fest daran, dass Gott genau durch diese Baumstämme und Blockaden zu uns spricht. Gott zeigt uns etwas mit diesen Hindernissen, die er uns in den Weg stellt: Du bist auf dem falschen Weg! Du hast dich verlaufen! Das ist seine Botschaft für uns. Wir können sie allerdings nur dann verstehen, wenn wir in die Stille kommen, wenn wir in einen Dialog mit unserem Schöpfer treten: Innehalten und uns fragen: Was ist hier los? Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Gibt es einen anderen Weg, den ich gehen kann? Wer sich in wildem Aktionismus und mit der Motorsäge über all die Baumstämme hermacht, die ihm den Weg versperren, bringt sich um eine großartige Chance: einfach einen anderen Weg zu gehen. Etwas Neues auszuprobieren. Sich selbst und andere auf eine ganz neue Art zu erfahren. Und nicht zuletzt wieder auf Gott zu hören und zu vertrauen.
Gundula Gause
Ich folge meinen Spuren
Alles Nachdenken über Lebenswege führt mich immer wieder zu den Orten der Herkunft meiner Eltern. Ich wollte sehen und erleben, wo ihre Wiege stand, auch weil die jeweiligen Geburtsstädte hochinteressante und bewegende Geschichten haben. Deshalb unternahm ich im Jahr 2005 mit meinem Vater eine Reise nach Insterburg, wo er 1934 geboren wurde. Sein Elternhaus entspricht in architektonischer Hinsicht in etwa dem Haus, in dem ich heute mit meiner Familie lebe. Beide Häuser wurden in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut und haben eine gewisse solide Grundausstrahlung.
Mit meinem Vater besuchte ich damals auch Königsberg, das heutige Kaliningrad. Einer meiner Großonkel, Fritz Gause, war einer der Stadthistoriker von Königsberg. Die von ihm verfasste Stadtgeschichte ist bis heute ein auch ins Russische übersetztes Standardwerk. Das Goethe-Institut St. Petersburg hatte mich gebeten, in Kaliningrad einen Vortrag über Fritz Gause zu halten und tatsächlich folgten viele Stadtführer der Einladung, um etwas über den Autor der von ihnen genutzten Literatur zu erfahren. Auch wegen dieses Termins befasste ich mich einmal mehr mit den
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