Landleben
danach eine Kreuzung auf
der Kuppe, wo ein verlassener Dairy-Queen-Eiskremwa-
gen stand. Er hatte nie erfahren, wohin die anderen bei-
den Straßen führten – die eine geradeaus, die andere nach
links. Seine Eltern wandten sich nach rechts und gingen
bergab, durch ein weiteres Waldstück und an der mit Me-
tallspitzen bewehrten Sandsteinmauer des Pomeroy-An-
wesens vorbei. Ein paarmal hörte Owen das Geräusch hin-
und hergeschlagener Tennisbälle und das Plätschern von
einem Swimmingpool, doch gewöhnlich schien niemand
zu Hause zu sein. Das Leben der Reichen war schwer vor-
stellbar, es bestand zu einem großen Teil daraus, nicht zu
Hause zu sein. Auf der anderen Straßenseite, am oberen
Rand von Willow, rückte der Friedhof in den Blick, mit sei-
nen Granitsteinen, blassrosa und blassgrau, kantig und kahl
im Sonnenlicht.
Die Straße, die weiter bergab führte, wurde zur Washing-
ton Street, in der die Häuser schmale seitliche Gärten und
terrassierte Vorgärten hatten, und ging nach drei Querstra-
ßen in das Geschäftszentrum von Willow über: das Kino,
die Sparkasse, der Fahrradladen, und an den fünf Ecken,
wo die Straße die Alton Pike kreuzte, waren Eberly’s Drug-
store, die lutherische Kirche, das Beerdigungsinstitut Hess,
die Gemeindeverwaltung mit ihrer kleinen Grünanlage
und Leinbach’s Oyster House, ein Restaurant im Erdge-
schoss eines alten Sandsteingebäudes in den Räumen des
einstigen Gasthauses, das The Willow geheißen hatte. Je-
des Mal wurde Owen leichter ums Herz, und das Gewicht
fiel von seinen Beinen, wenn er und seine Eltern ins Zen-
trum kamen, durch das er an jedem Schultag ging und das
er, sechzig Jahre später, Geschäft für Geschäft und Haus
für Haus vor seinem geistigen Auge wieder aufleben lassen
konnte.
Auf diesem Spaziergang zum Cedar Top, sie waren ge-
rade an dem verlassenen Eisstand vorbeigekommen, ge-
schah es eines Tages, dass Owen im Kies am Straßenrand
etwas milchig Weißes bemerkte, das wie ein erschlaffter
Luftballon aussah; es hatte das glänzende Äußere eines
Spielzeugs. Er bückte sich, um es näher zu betrachten, und
seine Mutter, die hinter ihm und über ihm war, sagte mit
der Stimme, die sie nur in Momenten äußerster Dringlich-
keit benutzte: «Fass das nicht an!»
Worin mochte die Gefahr liegen? Es war nichts Leben-
diges, aber ihre Stimme klang so, als wäre es das. «Was ist
das?», fragte er.
«Es ist ekelbä», sagte sie.
«Ekelbä» war ein erfundenes Wort, ein privates Wort,
das Owen geprägt hatte, als er noch nicht alles aussprechen
konnte und ohne Absicht Wörter erfand wie «Orasaf» für
«Orangensaft» und «Nana» für «Banane». «Ekelbä» bezog
sich auf Essen, das er nicht mochte und das ihm zu schlei-
mig oder undefinierbar war, oder so glibberig, dass er es
nicht runterschlucken konnte. Er musste «eklig» im Sinn
gehabt haben, vermischt mit «bäbä»; das Wort war geblie-
ben, als beschriebe es eine Wirklichkeit, die von der Zun-
ge nicht mit einem richtigen Wort berührt werden konnte.
Frischer Vogeldreck auf dem Rand des steinernen Vogelbe-
ckens und Regenwürmer, die beim Überqueren des heißen
Gehwegs vertrocknet waren, waren ebenfalls ekelbä.
«Wofür war das?», fragte er, und mit der Vergangenheits-
form zeigte er, dass er es als etwas Weggeworfenes erkannt
hatte, dessen geheimnisvoller Augenblick der Benutzung
vergangen war.
Beide Eltern schwiegen, als sie zu dritt weitergingen
und das faszinierende Gummiding am kiesigen Straßen-
rand hinter sich ließen. Anders als andere Eltern hielten
sie es für falsch, die Fragen eines Kindes unbeantwortet
zu lassen. Er spürte förmlich, wie Schuldgefühle an ihnen
nagten.
«Es war für die Reinlichkeit, Owen», sagte sein Vater
schließlich. «Wie ein Kleenextuch.»
«Es war ein Storch-Stopper», fügte seine Mutter hinzu,
jetzt mit besser gelaunter Stimme, in der etwas mädchen-
haft Verschwörerisches mitschwang. Er spürte, wie seine
Eltern hinter ihm in ihrem geheimen Wissen näher zusam-
menrückten. Normalerweise waren es er und seine Mutter,
die Geheimnisse hatten, in all den Stunden, in denen sein
Vater bei der Arbeit war. Das Unglücklichsein seiner Mut-
ter war das Hauptgeheimnis, auch wenn er das, was genau
sie unglücklich machte, nicht recht erraten konnte. Toch- ter, Ehefrau und Mutter zu sein, alles im selben Haus, war
anstrengend, soviel sagte sie ihm, obwohl er nicht wusste,
warum das so sein sollte. Er selbst war Sohn und
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