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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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erschrocken nach der Lehrerin umsah und eine Entschuldigung andeutete. Dann kam Bernhard an meine Bank und setzte sich neben mich, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er packte seine Schulsachen aus, legte sie vor sich auf den Tisch und schien sich für die ablaufende Platzverteilung überhaupt nicht zu interessieren. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und sagte etwas zu ihm, eine Bemerkung über die Lehrerin und ihre alljährliche Sitzverteilung. Bernhard warf mir lediglich einen kurzen Blick zu und beschäftigte sich wieder mit dem Auspacken und mit dem Umordnen seiner Schulsachen in dem unförmigen Stoffbeutel, den er noch immer statt eines Ranzens benutzte. Haber als Banknachbarn zu haben war besser als ein Mädchen, aber nach den Mädchen war es Bernhard Haber, neben dem man keinesfalls sitzen wollte.
    Wir saßen zwei Jahre in derselben Bank, bis er schließlich in der siebenten Klasse nicht versetzt wurde. Mitten im Schuljahr hatten wir einen neuen Lehrer für Physik und Mathematik bekommen, der Bernhard in beiden Fächern eine Fünf gab, so dass er in der achten Klasse nicht mehr neben mir saß.
    Gesprochen haben wir in den zwei Jahren nicht viel miteinander und im ersten halben Jahr eigentlich gar nicht. Anfangs nahm ich jede Gelegenheit wahr, mit ihm in ein Gespräch zu kommen. Wenn er mir überhaupt antwortete und es nicht allein bei einem Nicken oder Schütteln des Kopfes beließ, so waren seine Antworten wortkarg undmeistens einsilbig. Vielleicht wollte er sich mit uns nicht abgeben, weil er ein Jahr älter war. Viele der größeren Schüler lehnten es ab, mit den Jüngeren zu sprechen. Sie ärgerten und hänselten sie auf dem Schulhof, doch sie unterhielten sich nie mit ihnen. Vielleicht fühlte Bernhard sich nicht wohl in meiner Klasse und in unserer Schule und vermisste seine Heimatstadt und das Dorf, in dem er die letzten Jahre in Polen gelebt hatte.
    Die meisten Vertriebenen waren merkwürdige Menschen, sie sprachen eigenartig und betonten die Worte ganz anders als wir, und sie benutzten Ausdrücke, die nicht deutsch klangen und die keiner in der Stadt verstand, und so war es natürlich, dass die Umsiedler und ihre Kinder untereinander befreundet waren. Sie sprachen eben anders und lebten anders, sie hatten andere Dinge erlebt. Irgendwie kamen sie aus einem Deutschland, das nicht unser Deutschland war.
    Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch. Sie hatten sich bei uns niedergelassen, sie hatten in unserer Stadt ihr Quartier aufgeschlagen, aber eigentlich bewohnten sie ihre verschwundene Heimat. Fortwährend sprachen sie darüber, was sie alles verloren hatten, und davon wollte keiner in der Stadt etwas hören, denn gut ging es in den Jahren nach dem Krieg auch denen nicht, die man nicht vertrieben hatte. Selbst jene, die keinen Bombenschaden oder andere Verluste durch den Krieg zu beklagen hatten, mussten sehen, wie sie zurechtkamen. Und denjenigen, denen es eigentlich recht gut ging und die eine Wohnung besaßen oder ein Haus, hatte die Stadtverwaltung irgendwelche Leute eingewiesen, Bombenopfer aus den benachbarten Städten oder eben eine der Umsiedlerfamilien. Und nicht jeder konnte seine zwangsweise einquartierten Gäste in einer Futterküche unterbringen, auf einem notdürftig hergerichteten Dachboden oder wie Bauer Griesel in unbenutzten Kammern des Hauses. Die meisten von denen, die Umsiedler zugewiesen bekamen,mussten ein oder sogar zwei Zimmer räumen, um den ungebetenen Gästen Platz zu machen und mit ihnen die Küche und die Toilette zu teilen, und wer ein Bad besaß, der durfte den Fremden die Benutzung nicht verwehren.
    Diejenigen Einwohner, die keine Umsiedler zugewiesen bekamen oder nur für ein paar Monate, obwohl sie große Wohnungen oder ein Haus besaßen wie meine Eltern, wurden heftig beneidet, und man erzählte sich Geschichten, wie es ihnen gelungen sei. Vater sprach nie mit mir darüber, auch später nicht, ich ahnte, dass es etwas mit dem Kegelklub zu tun hatte, zu dem er zweimal im Monat ging und dem die Geschäftsleute von Guldenberg angehörten. In der Stadt hieß es, dass dort nicht bloß gekegelt werde, was genau beredet wurde, wusste keiner. Wenn ich Vater danach fragte, lachte er und sagte, ich würde ihm wohl das Vergnügen gönnen, zweimal im Monat mit Freunden ein Bier zu trinken. Er sagte mir, dass der Kegelklub uralt sei und früher Kegelklub Grün-Gold geheißen habe und später Deutscher Kegelklub. Nach dem Krieg

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