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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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einige von uns verstohlen zu ihm. Keiner redete mit ihm über den Brand, und Bernhard blieb verschlossen wie immer. Eins der Mädchen sprach ihn an, um ihm ihr Mitgefühl auszudrücken. Er unterbrach sie nach den ersten Worten, fragte sie nach den Hausaufgaben des Vortags und ließ sich von ihr zwei Hefte geben, aus denen er die Texte vom Vortag abschrieb, ohne auf das Mädchen weiter zu achten.
    In der zweiten Schulstunde hatten wir bei Fräulein Nitzschke Unterricht. Nachdem sie uns begrüßt hatte und wir uns hinsetzen durften, sprach sie über das Unglück, das über Bernhards Familie gekommen sei, und dass wir uns alle nach Kräften bemühen sollten, unserem Mitschüler zu helfen. Ich fragte mich, was sie damit meinen könnte, und ich war sicher, dass es allen Mitschülern wie mir erging, falls sie überhaupt den schmalzigen Worten von Fräulein Nitzschke zugehört hatten. Wie zum Teufel sollte man diesem verstockten und stummen Umsiedler helfen! Ich schielte zu ihm rüber. Bernhard starrte so unbewegt die Lehrerin an, als redete sie über den Nordpol. Als Fräulein Nitzschke an unsere Bank trat und ihm über die Haare strich, sah er mich an mit einem Blick, dass ich wusste, wenn ich lachen würde, wenn ich mir nur ein Grinsen nicht verkneifen könnte, so würde er mir in der folgenden Pause ein paar warme Ohren verpassen, wie das bei uns hieß. Also biss ich die Zähne zusammen und bemühte mich, gleichmütig zuzuschauen, wie Fräulein Nitzschke ihre bei uns allen verhassten Zärtlichkeiten an ihm ausließ. Sie erkundigte sich bei ihm, ob er etwas sagen wolle, darüber, was sein Vater nun vorhabe. Bernhard schüttelte den Kopf, und FräuleinNitzschke ging an den Lehrertisch zurück und begann mit ihrem nervtötenden Unterricht.
    Über das Feuer hat Bernhard uns gegenüber nie ein Wort verloren. Dass es eine Brandstiftung war, wurde amtlich festgestellt. Die Polizei sprach mit einigen Leuten, die am Stadtrand und in der Nähe der Niedermühle wohnten, und fragte sie, ob sie etwas Auffälliges bemerkt oder irgendwelche Personen gesehen hätten, die dort nicht wohnten, und so erfuhren wir, dass die Polizei nach einem Feuerteufel suchte. Vater bemerkte dazu, dass man lange suchen könne, wenn man eigentlich nichts finden will, und als ich ihm erzählte, dass viele in meiner Klasse der Ansicht seien, der einarmige Tischler habe seine Werkstatt, die alte Tabakscheune, selbst angesteckt, sah er mich lächelnd an, fasste nach meinem Kinn, damit ich ihm in die Augen sah, und fragte: »Und du? Bist du auch dieser Meinung?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich, »ich habe keine Ahnung.«
    »Nein«, sagt er, »das Feuer hat nicht der alte Haber gelegt. Wer es war, weiß ich nicht, ganz bestimmt nicht dieser einarmige Tischler. Und jeder von uns, nicht nur einer von den Vertriebenen, kann plötzlich in eine solche Lage kommen. Eine Stadt ist zu vielem fähig, mein Junge, da reicht eine kleine Dummheit aus, und dann findest du in einem so hübschen Nest wie dem unseren nicht mehr genug Sauerstoff, um zu atmen, mein Junge. Diese schönen Vorgärten, diese entzückenden Blumenbeete vor den kleinen Häusern, sie verströmen den Geruch von Neuritis und Wahnsinn, denn sie werden mit Depressionen gedüngt. Ich muss es wissen, denn bei mir holen sie sich die Tabletten. Und wenn ich sie ihnen verkaufen dürfte, so würden sie sich ein paar endgültige Tabletten besorgen, um hier herauszukommen. – So, und nun verschwinde. Iss dein Abendbrot, und dann ab ins Bett.«
    Zwei Monate nach dem Brand bekam Haber mehrere Räume in einem Haus in der Molkengasse als Werkstattzugewiesen. Die Stadtverwaltung vermietete ihm die leeren Räume im Erdgeschoß der alten Matratzenfabrik, die an einem der allerletzten Kriegstage ausgebrannt war, wobei ihr Besitzer, ein älterer verwitweter Mann, bei dem Versuch, das sich ausbreitende Feuer im Haus zu löschen oder einzudämmen, an einer Rauchvergiftung gestorben war. Er hatte keine Kinder und offenbar auch keine Erben, denn nach seinem Tod erhob niemand einen Anspruch auf die Ruine, die frühere Fabrik. Die Fenster der beiden oberen Stockwerke waren herausgeschlagen, das Dach war lediglich mit Pappe regendicht gemacht worden, um den weiteren Verfall aufzuhalten, zu nutzen waren allein die Räume im Erdgeschoß, von denen einer vollständig gefliest war wie das Schlachthaus eines Fleischers. Der alte Haber hatte von der Stadtverwaltung einen Mietvertrag für das Erdgeschoß bekommen mit der Zusicherung,

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