Landnahme
sobald das Haus wieder hergestellt sei, bei der Vergabe der darüber liegenden Räume, die irgendwann einmal Wohnungen werden sollten, berücksichtigt zu werden. Man sagte ihm, es würde lange dauern, sehr lange, denn die Stadt besitze viele Häuser, die beschädigt und nur eingeschränkt bewohnbar waren, und es gebe eine Dringlichkeitsliste, auf der das Haus in der Molkengasse nicht einmal erwähnt wurde, denn zu viel sei an diesem Haus zu reparieren, und man überlege, es abzureißen und neu zu bauen, was vermutlich billiger sei. Mit dem Mietvertrag und allen notwendigen Genehmigungen der verschiedenen Ressorts im Rathaus, die bei einer Vergabe von gewerblich genutzten Räumen befragt werden mussten, bekam er einen Schein für die Sonderzuteilung von Baustoffen, falls er selbst das Haus wieder instand setzen wollte. Für diesen Fall wurde in Aussicht gestellt, dass man ihm das gesamte Objekt, sobald es nach der Fertigstellung vom Bauamt abgenommen sei, lebenslang und unentgeltlich überlassen werde. Frau Steinmar, die Sachbearbeiterin, die ihm die Formulare überreichte, sagte: »So sindunsere Vorschriften, Herr Haber, tut mir Leid. Ich sehe ja, dass Sie das Haus nicht bauen können.« Und dann fügte sie achselzuckend hinzu: »Besseres können wir Ihnen nicht geben. Sie wissen ja selbst, wie es in Guldenberg aussieht.«
»Danke. Ich bin zufrieden. Die alten Fabrikräume haben gerade die richtige Größe für mich. Und so eingebaut zwischen den anderen Häusern, da wird man sie mir nicht anzünden.«
»Glauben Sie denn wirklich, dass jemand aus unserer Stadt die Scheune ...«
»Vielen Dank für Ihre Mühe.«
»Und Sie wollen da wirklich einziehen? Es steht nur leer, weil die Decke einzustürzen droht.«
»Ich weiß. Ich habe es gesehen. Ich bin zufrieden damit.«
»Tut mir Leid. Etwas anderes haben wir tatsächlich nicht. Es sind einfach zu viele Flüchtlinge, zu viele Umsiedler.«
»Ich weiß.«
»Ich meine ... ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Herr Haber, wir sind halt eine kleine Stadt. Wir haben selbst genug Opfer bringen müssen, und die Bomben haben uns nicht verschont.«
»Jaja.«
»Ich weiß, Sie haben alles verloren, aber aus dem Vollen kann bei uns keiner leben. Sehen Sie es so: Wenn die Räume in Ordnung wären, dann hätte man sie längst vergeben. Dann hätte das Haus ein anderer bekommen, einer aus der Stadt.«
»Ich weiß.«
»Und insofern ist es ein Glücksfall für Sie, dass das Haus so marode ist.«
»Ja.«
Haber erhielt einen Kredit von der Stadt, bei der Sparkasse wurde für ihn ein Konto eröffnet, mit dessen Hilfe er sich eine Kreissäge und das nötigste Werkzeug beschaffen konnte, denn mit der Scheune war seine gesamte Einrichtungverbrannt, und eine Versicherung hatte er zwar abgeschlossen, aber sie bezahlte nichts, da er seine Werkstatt in einer hölzernen Scheune eingerichtet hatte, was laut Vertrag bei seinem Gewerbe nicht erlaubt war.
Von Herrn Satern, dem das Schreibwarengeschäft gehörte, das auch einige Bücher anbot und selbst gefertigte Ansichtskarten der Stadt und der beiden Sehenswürdigkeiten der Umgebung, des Luthersteins und des Bismarckturms, ließ er sich ein zurechtgeschnittenes Holzbrett beschriften, das er über dem Eingang zur ehemaligen Matratzenfabrik anschraubte: ›Bau- und Kunsttischlerei G. Haber‹ war da in dicken geschwungenen Schriftzeichen zu lesen. Das Brett überdeckte die im Putz eingebrachte Kennzeichnung der früheren Fabrik notdürftig, über und unter dem Brett ließen sich die alten, auffälligen Frakturbuchstaben der Matratzenfabrik erkennen.
»Reich werden kann er jedenfalls nicht bei uns«, hatte Vater dazu gesagt, »aber wenn er für sich und seine Familie das Brot verdienen kann, dann ist das schon viel in dieser Zeit.«
Zu tun gab es für den Tischler wenig. Die Einheimischen beauftragten die alteingesessenen Tischler, und die Vertriebenen, die unsere Stadt überschwemmt hatten, besaßen nicht genug, dass sie einen Handwerker bitten konnten, für sie etwas anzufertigen. Sie sägten und nagelten die Holzbretter selber und bauten sich recht und schlecht zusammen, was sie benötigten.
Vor dem Krieg hatte es in Guldenberg fünf Tischler gegeben, und jeder von ihnen hatte ausreichend zu tun. Als die Habers in die Stadt kamen, existierten drei Tischlereien, die anderen Handwerker waren gestorben oder weggezogen. Arbeit gab es mehr als je zuvor, doch die Leute besaßen nichts mehr und reparierten ihre Fenster selber, und ehe sie
Weitere Kostenlose Bücher