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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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eine neue Tür anfertigen ließen, nagelten sie lieber ein Brett über die schadhafte Stelle, als dass sie das wenige Geld, welchessie besaßen, zu einem Handwerker trugen. Und schon gar nicht wollten sie es einem der Vertriebenen zukommen lassen, die allein das Elend der Stadt vergrößerten. Wie der alte Haber aus einem großen Brett eine Rundung ausschneiden oder einen Hobel führen wollte, war für uns ohnehin ein Rätsel. Gelegentlich hörte ich die Erwachsenen über ihn reden, manche bedauerten ihn, einen Auftrag wollte ihm aber keiner geben, jedenfalls keiner unserer Verwandten und Bekannten. Alle in der Familie waren der Ansicht meines Vaters, der nichts gegen die Umsiedler hatte, jedoch meinte, dass das Mitleid mit diesen Leuten nicht die Vernunft vernebeln sollte.
    »Bei einem einarmigen Tischler etwas zu bestellen«, hatte Vater gesagt, »das ist vielleicht christlich und menschlich gehandelt, aber das tut nur, wer nicht bis zwei zählen kann.«
    Ein Jahr später konnte die Familie Haber die Dachzimmer von Bauer Griesel verlassen und zog in eine Wohnung in der Mühlenstraße. Der vorherige Bewohner war im Mai über Nacht ins westliche Deutschland geflüchtet. Zuvor war er Parteisekretär in der Maschinenfabrik gewesen und nun, wie es in der Stadt hohnlachend hieß, unter Mitnahme der Parteikasse, der Mitgliederlisten und wichtiger Akten der Fabrik geflohen. Wegen seiner Flucht gab es wochenlang einige Aufregung in Guldenberg. Auch in der Schule verlangten die Lehrer von uns höhere Wachsamkeit. Der Geschichtslehrer sprach wiederholt über die Anschläge des Klassenfeinds und redete über Sabotage, Diversionsakte, Infiltration und Agenten, und wir hörten ihm schweigend und uninteressiert zu. Unter uns sagten wir ›Sabogenten‹, denn all diese Schlagworte waren für uns bedeutungslos.
    Die Wohnung des früheren Parteisekretärs blieb wochenlang versiegelt, dann wurden die Möbel ausgeräumt und weggebracht, und nach dem Verlauf weiterer Wochen bekam der Tischler die Drei-Zimmer-Wohnung zugesprochen,da die oberen Stockwerke der Matratzenfabrik in absehbarer Zeit nicht bewohnbar gemacht werden konnten, und er zog mit seiner Familie in die Wohnung in der Mühlenstraße ein.
    Um seinen Eltern beim Umzug zu helfen, wurde Bernhard für zwei Tage vom Unterricht freigestellt, obgleich er ein schlechter Schüler war. Die größeren Möbelstücke fuhr Bauer Griesel mit dem Pferdefuhrwerk in die Mühlenstraße, und die Kartons und die kleineren Stücke transportierte Bernhard mit dem Hundegespann. An einen kleinen hölzernen Handwagen mit blechbeschlagenen Rädern hatte sein Vater eine Gabeldeichsel angebracht, und Bernhard hatte aus alten Kunststoffgurten der Pferdegespanne, die auf dem Bauernhof nicht mehr gebraucht wurden, da sie mehrmals gerissen waren, einen Halsgurt für seinen Hund zusammengenäht, der an zwei Haken des Querjochs eingehängt wurde. Dem Hund wurde der Gurt umgelegt, dann wurde er vor den Wagen gespannt. Bei dem Umzug wurde der Handwagen voll beladen und Bernhard zog mit Tinz an der Deichsel und lenkte den Wagen. Nach dem erfolgten Umzug sah man Bernhard häufiger mit seinem Hundekarren durch die Stadt fahren, denn er kutschierte nicht allein über den Bauernhof, sondern ließ sich von seinem Tinz durch die Parkanlagen ziehen. War der Weg ansteigend, lief er neben dem Wagen und schob ihn, wenn sie auf ebene und glatte Teerflächen und auf die ausgetretenen Parkwege kamen, sprang Bernhard in den Wagen und ließ sich von Tinz ziehen, wobei er mit ausgestreckten Beinen die Gabeldeichsel lenkte und gelegentlich mit auf der Erde schleifenden Füßen das Gefährt abbremste.
    Seinen Hund hatte er nicht lange, nur zwei Jahre. Tinz starb wenige Monate nach dem Umzug, während der Ferienzeit im Sommer. Man fand den Kadaver eines Tages am Fluss, hundert Meter von unserer Badestelle entfernt, versteckt in einem Gebüsch. Kleine Kinder hatten ihn gefunden,weil das tote Tier die Insekten anzog und bereits stank. Die Kinder liefen aufgeregt nach Hause und berichteten unterwegs atemlos jedem, der ihnen über den Weg lief, von ihrem Fund. Ein Mann aus der Siedlung, dessen Kinder tagsüber an der Badestelle waren, hielt sie schließlich auf und ließ sich von ihnen den Fundort zeigen. Er holte den Kadaver mit einem Stock unter dem Gebüsch hervor, band einen Bindfaden um den Kopf des Hundes, zog ihn vom Fluss und der Badestelle weg und vergrub das verwesende Tier mit Hilfe eines Kinderspatens, den er sich am

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