Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
Vom Netzwerk:
hielt einen Zeigefinger ausgestreckt vor seinem Gesicht, dann seufzte er, zog das Schulheft aus der Umhängetasche heraus, leckte den Tintenstift kurz an undhielt ihn dann schreibbereit über einer aufgeschlagenen leeren Seite.
    »Haben Sie einen Verdacht?«, fragte er. »Können Sie mir einen Namen nennen? Was haben Sie beobachtet?«
    »Sie fragen mich, ob ich etwas beobachtet habe? Ja. Seit ich hier leben muss. Seit ich als Umsiedler hierher eingewiesen wurde.«
    »Ich spreche von dem Brand, ausschließlich von diesem Brand hier. Ich will von Ihnen wissen, ob Sie etwas beobachtet haben, was zur Aufklärung der Brandursache dienen kann.«
    »Schreiben Sie die ganze Stadt auf. Wenn Sie den Täter haben wollen, schreiben sie Guldenberg hin.«
    »Na, na, na«, sagte der Polizist drohend. Er war verärgert, weil er geglaubt hatte, der Tischler würde tatsächlich einen Namen nennen, und er sich bereits darauf vorbereitet hatte, einen weiteren Satz in sein Heft zu schreiben.
    »Das will ich jetzt überhört haben«, fuhr er fort, »sonst könnte Sie das teuer zu stehen kommen, Bürger.«
    »Es ist die Wahrheit. Zweimal habe ich alles verloren. Ich wurde zweimal ruiniert. In Breslau habe ich eine komplett eingerichtete Werkstatt an die Polen verloren, ich musste sie aufgeben, und nicht einen Pfennig habe ich dafür bekommen. Und jetzt das hier. Jetzt bin ich zum zweiten Mal bankrott.«
    Der Polizist schüttelte den Kopf: »Das eine haben Sie Hitler zu verdanken, und das hier, das ist Schicksal. Feuer, das ist eine Naturgewalt. Gegen Feuer sind wir machtlos. Sie sehen es ja selbst. Wenn es Brandstiftung war, dann, Herr Haber, bekommen wir es raus, uns entgeht nichts, wir kriegen jeden Banditen am Wickel, und Sie bekommen jeden Pfennig ersetzt. Freilich, wenn es das Schicksal war oder gar Fahrlässigkeit, das ist dann etwas anderes.«
    »Für mich ist es das Ende. Jetzt kann ich mir den Strick nehmen.«
    »So etwas sollten Sie nicht sagen, Herr Haber. Irgendwie geht es immer weiter.«
    »Ja ja, irgendwie. Aber irgendwann ist Schluss.«
    Der Polizist klappte das Schulheft zu, steckte es zusammen mit dem Stift in die schwarze Tasche, die er sich umgehängt hatte, und legte eine Hand dem Tischler auf die Schulter: »Nun nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, Herr Haber. Morgen früh sieht alles schon viel besser aus. Den Kopf wird es Sie nicht kosten.«
    Er ging zu seinem Kollegen, und gemeinsam schritten sie bedeutungsvoll zu Herrn Keller, um mit ihm zu sprechen. Herr Haber stand als ein gebrochener Mann vor den Resten seiner Werkstatt, aus denen einzelne Flammen züngelten, der Mund stand ihm halb offen. Bernhard ging zu ihm und legte ihm für einen Moment die Hand auf die Schulter, sein Vater schaute ihn an, dann streichelte er ihm mit der verbliebenen linken Hand über den Nacken. Die beiden starrten in die Glut und auf die herausragenden grauschwarzen Maschinenteile. Lediglich das Zischen der mit Wasser besprühten Glut und das Geräusch des Wasserstrahls und der Pumpe waren zu hören. Viele der Kinder waren bereits verschwunden. Es standen etwa dreißig Leute um die Brandstätte herum, alle betrachteten schweigend die glimmenden Reste der Scheune, beobachteten die Arbeit der Feuerwehrleute, die allmählich die Glutherde zum Erlöschen brachten, und warfen immer wieder einen Blick auf den mit hängenden Schultern dastehenden Tischler Haber und seinen Sohn Bernhard.
    Nach neun Uhr erschien mein Vater auf der Wiese. Er suchte mich, weil es inzwischen stockdunkel geworden war. Da keiner meiner Klassenkameraden nach Hause gehen wollte, war ich bei der Scheune und der Feuerwehr geblieben.
    »Da bist du ja«, sagte Vater, als er eine Hand auf meine Schulter legte und mich ärgerlich herumriss, »ich dachtemir schon, dass ich dich hier finden werde. Abendbrot ist für heute vorbei, mein Lieber, und nun ab mit dir.«
    Doch dann blieb er stehen und betrachtete die heruntergebrannte Scheune, während ich ihm erzählte, was die Polizei und Herr Haber gesagt hatten. Als ich sagte, dass der Tischler von dem Polizisten verlangt habe, er solle die Stadt Guldenberg als Brandstifter aufschreiben, schnaubte Vater kurz durch die Nase und lachte auf.
    »Da hat er nicht einmal so Unrecht«, murmelte er halblaut, »komm mit.« Er nahm mich an der Hand, und wir gingen zu Herrn Haber, der mit Bernhard schweigend in die glimmenden Reste der Scheune starrte.
    »Guten Abend, Herr Nachbar«, sagte Vater zu dem Tischler, obwohl wir überhaupt nicht

Weitere Kostenlose Bücher