Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
Vom Netzwerk:
wurden. Die Genossenschaft in Guldenberg hatte den Namen ›Neuer Kurs‹, und mein Vater sagte, es sei ein Klub von Faulenzern und Hungerleidern, die sich zusammengeschmissen hätten, um abwechselnd die einzige Hose anzuziehen, die sie haben.Und so redeten auch die anderen Leute in der Stadt, und in meinem Salon habe ich nie nur ein gutes Wort über die Genossenschaft gehört, zumal viele der Neubauern auch Umsiedler waren, die man nicht allzu sehr liebte. Im Salon sagte einmal eine Kundin, der Name der Genossenschaft müsse eigentlich ›Neuer Konkurs‹ lauten. Alle haben gelacht, sogar Frau Heidepriem, dann sagte die Chefin, das sei Politik und davon verstehe sie nichts, und sie habe es nicht gern, wenn in ihrem Salon darüber geredet werde. Alle verstanden sofort, und so haben wir mit den Kundinnen über Männer und die Kinder, über Frisuren und Schauspieler gesprochen.
    Die Bauern, die in der Genossenschaft waren, mussten weniger arbeiten als die anderen Bauern. Sie hatten einen richtigen Feierabend und sogar einen Jahresurlaub, worüber die alten Bauernfamilien den Kopf schüttelten, denn das konnte nicht gut gehen. Tatsächlich erntete die Genossenschaft viel zu wenig Korn, das wussten alle, auch wenn in der Zeitung etwas anderes stand, und ihre Kühe waren keinesfalls besser als die der privaten Bauern, eher schlechter, obwohl die Genossenschaftsbauern bevorzugt beliefert wurden und von der Ausleihstation für Maschinen und Traktoren alles bekamen, was sie brauchten, während die privaten Bauern wochenlang warten konnten und ihre Ernte mit Pferden, alten mechanischen Mähdreschern und den Leiterwagen vom Feld holen mussten.
    Im Frühjahr wurde die Genossenschaft umbenannt, sie hieß nun nicht mehr ›Neuer Kurs‹, sondern ›Morgenrot‹. Vater sagte, durch die Umbenennung habe man den Konkurs abwenden können, das sei eine Milchmädchenrechnung, die man Journalisten verkaufen könne, aber keinem Menschen, der schon mal einen Stall von innen gesehen habe. Ich interessierte mich nicht dafür, schließlich war ich Friseuse, und im Salon gab es andere Probleme. Mir konnte die ganze Genossenschaft gestohlen bleiben, denn was ichbrauchte, das war eine anständige Schere, eine aus Solingen, denn unsere Scheren waren eher für eine Rupfenfrisur geeignet oder zur Pflege des Vorgartens, nicht für so einen eleganten Schnitt, wie er in den westlichen Zeitungen zu sehen war, die uns die Kundinnen präsentierten, wenn wir sie nach ihren Wünschen fragten. Frau Heidepriem war nicht auf den Mund gefallen. Wenn eine Kundin ihr das Hochglanzgesicht einer Schauspielerin vorlegte und dann erklärte, sie brauche genau die gleiche Frisur wie Sophia Loren, dann sagte die Chefin: »Einverstanden, dann bringen Sie mir die Haare von Sophia Loren.« So frech durften wir nicht zu den Kundinnen sein, und ich als Lehrling schon gar nicht. Ich hatte meine eigenen Probleme, und dazu gehörte die Aufregung um die Genossenschaft weiß Gott nicht, und Frau Heidepriem achtete darauf, dass im Salon nie wieder darüber gesprochen wurde.
    Die Zeitung war voll mit Berichten über die Genossenschaft. Von denjenigen, die eingetreten waren, wurden Fotos veröffentlicht, wenn sie wieder eine Prämie erhalten hatten, und wer nicht eintreten wollte, wurde in der Zeitung namentlich genannt und als ein Friedensfeind bezeichnet, der nichts aus dem letzten Krieg gelernt habe. Doch das stand immer auf der ersten oder zweiten Seite, und die las im Salon sowieso niemand. Wir blätterten die ersten Seiten rasch um und lasen, was über Mode und Film oder über unsere Stadt mitgeteilt wurde. Die Mitteilungen und Annoncen über Geburten und Beerdigungen wurden aufmerksam gelesen, denn darüber konnten wir mit den Kundinnen reden, und das monatliche und wöchentliche Kinoprogramm schnitten wir uns sogar aus. Frau Heidepriem und die beiden Ausgelernten studierten stundenlang die Lottoergebnisse, weil sie eine Spielgemeinschaft gebildet hatten und sich jede Woche mehrere Lose von ihren Trinkgeldern kauften. Sie konnten sich das leisten, sie verdienten richtig und bekamen von einigen Kundinnen dicke Trinkgelder. Siebekamen auch das Trinkgeld, das eigentlich mir zustand, wenn ich eine Kundin fast ganz allein bedient hatte, im Salon war es Gesetz, dass immer der Ausbildende das Trinkgeld für den Lehrling einstecken darf. So haben wir im Geschäft jeden Tag und unaufhörlich miteinander geredet, über den ›Neuen Kurs‹ und das ›Morgenrot‹ verloren wir

Weitere Kostenlose Bücher