Landnahme
größer als das der Jungs, und spielten Karten. Ich habe nie wieder in meinem Leben so viele Stunden Skat gespielt.
Die Heimfahrt war nicht so schrecklich, vielleicht weil ich wusste, was uns erwartete, oder weil ich heilfroh war, diesen Urlaub und dieses Zelt überstanden zu haben. Zelten jedenfalls wurde danach für immer aus meinem Leben gestrichen, ich bin eben eher der Typ Hotelzimmer. Bernhard sah ich nach dem Urlaub selten, es vergingen manchmal zwei Wochen, in denen wir uns nicht ein einziges Mal trafen, ich hatte meine Arbeit und meine Freundinnen, und er kam jeden Wochentag erst spät aus Spora zurück und musste dann seinem Vater helfen. Sylvie und Norbert sah ich nur aus der Ferne, wir gingen uns aus dem Weg. Sylviekam nie wieder in meinen Salon, sie ließ sich seit diesem Urlaub bei einem anderen Friseur die Haare schneiden und legen oder von einer Freundin, das machten ja viele.
Im zweiten Lehrjahr hatte Bernhard seinen großen Auftritt. Es kam ankündigungslos, auch für mich, und ich weiß überhaupt nicht, welcher Teufel ihn geritten hat. Ich vermute, er hat sich nach dem unseligen Urlaub weiterhin mit Sylvie getroffen, und sie hat ihn beredet. Denn wenn ich lange genug auf ihn einredete, wusste er irgendwann nichts zu entgegnen und machte, was ich von ihm verlangte, und vielleicht hatte Sylvie ihn auch so in der Hand. Ich will nicht behaupten, dass er vor Frauen Angst hatte, er war nicht eben geschickt, und jedes Mädchen konnte ihn verlegen machen. Diese Erfahrung hatte ich mit ihm gemacht, und ich denke, wenn eine Frau mit ihm etwas anderes erlebt hat, dann hatte sie nicht lange genug mit ihm gesprochen. Bernhard redete nicht nur wenig und war störrisch, man konnte ihn außerdem leicht beeinflussen, wenn man wusste, wie. Irgendwie hatte er etwas von einem Esel an sich, von einem halsstarrigen, eigensinnigen Esel, der weder mit Worten noch mit Hieben zu bewegen war vorwärts zu gehen, und der dann urplötzlich und wenn man es schon aufgegeben hatte, in die gewünschte Richtung loslief, weil ihm vielleicht endlich klar geworden war, was man von ihm wollte. Alles, was ich ihm sagte, musste er erst gründlich kauen und verdauen, bevor es wirklich in seinem Kopf ankam. Er war schwerfällig von Begriff und wie sein Vater und die ganze Familie ewig misstrauisch, und alle in der Familie machten diese merkwürdigen Augen, wenn man mit ihnen sprach. Sie starrten einen an, als ob sie einem von den Lippen lesen oder sich kein Wort entgehen lassen wollten. Sie kniffen die Augen nicht direkt zusammen, der Schlitz verengte sich, als warteten sie gespannt darauf, was nun kommen könnte. Vielleicht war das in ihrer Heimat üblich, vielleicht waren dort, wo sie herkamen, alle so misstrauisch, oder sie hattendort irgendetwas Schlimmes erlebt und befürchteten, es könnte ihnen auch bei uns zustoßen. Mutter sagte einmal, Bernhard sei ein richtiger Bauer. Damals dachte ich, sie wolle ihn und mich damit beleidigen, später verstand ich, dass sie etwas anderes damit sagen wollte. Bernhard war ein Bauer. Vielleicht lag es an schlimmen Geschichten, die in ihrer Heimat passiert waren oder bei der Vertreibung, denn auch die anderen Vertriebenen waren irgendwie seltsame Leute, oder der Argwohn lag ihnen im Blut, und sie schleppten ihn von den Urgroßeltern her immer weiter bis ans Ende der Welt. Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass ich von seiner Familie nicht eben mit offenen Armen empfangen wurde, sondern eher wie ein Eindringling, den man vorsichtig beäugt und nie aus den Augen lässt.
Mit Bernhard und mir war es natürlich anders, aber geöffnet hat er sich mir nicht, doch das habe ich erst zum Schluss begriffen, als meine Eltern und alle möglichen Leute mich nach ihm ausfragten und ich eigentlich gar nichts über ihn sagen konnte. Ich war drei Jahre mit ihm zusammen und wusste eigentlich nicht mehr als alle anderen über ihn und konnte nicht sagen, was in ihn gefahren war.
Seit zwei, drei Jahren gab es bei uns eine Genossenschaft, eine Vereinigung vor allem der Neubauern mit ihren kleinen Feldstücken, die in dieser Genossenschaft alles zusammengeworfen hatten und seitdem gemeinsam die Felder bewirtschafteten und ihr Vieh züchteten. Von den Einheimischen war anfangs keiner in die Genossenschaft eingetreten, und die alten Bauernfamilien, die schon seit Generationen auf ihrem Acker hockten, weigerten sich entschieden, ihr Eigentum aufzugeben, obwohl jeden Tag in der Zeitung Erfolge der Genossenschaft gemeldet
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