Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
bekannt für seine Grausamkeit, zögert einen Moment, schwingt dann seine große Hand in meine Richtung und in die der Gruppe von Jugendlichen und sagt: »Hau ab!« Er schickt mich zum Rest der Jugendlichen, und von dort beginnt der entsetzliche Weg der Angst, den ich schon beschrieben habe, auf die Krematorien zu: links ins Krematorium oder geradeaus zur nächsten Etappe? Vielleicht in ein anderes Lager innerhalb von Auschwitz, neuen Proben entgegen, die die Erfüllung des unabänderlichen Gesetzes für eine kurze Zeit verzögern werden. Ich habe keine Ahnung, was seine Beweggründe oder Erwägungen waren – vielleicht hat sich etwas in ihm gerührt, vielleicht wollte er die Schererei einer erneuten Zählung vermeiden – für meine innere Erfahrung ist das sicher nicht von Belang. Mir war klar, dass die Vollstreckung des unabänderlichen Gesetzes, das auch mich in dieser sich entfaltenden Ordnung des Großen Todes einschloss, aufgeschoben war.
Also, bei der großen Evakuierung von Auschwitz im Herbst 1944 hat sich das Wunder nicht wiederholt: Ich wurde zurückgeschickt. Meine Zeit, darüber war ich mir im Klaren, war gekommen. Meine Versuche, zu entkommen, waren vorüber; die vormals kleinen Anstrengungen wichen, und ich ergab mich der Resignation, dem unabänderlichen Gesetz des Großen Todes, dem unausweichlichen Ende. Von da an, in den verbleibenden Monaten bis zur endgültigen Liquidation im Januar, wurde Auschwitz zu einem Geisterlager, in dem das Leben nunmehr auf geborgter Zeit beruhte. Allen, die übrig blieben, war klar, dass die geborgte Zeit ablaufen würde, sobald die Front näher rückte und das Lager endgültig liquidiert werden würde.
Dieses Ereignis der letzten Zurückweisung von den Lagertoren war weitaus bedeutender als alle vorangegangenen Stadien der Kämpfe, des Überlebens und der Hoffnungen samt allen damit einhergehenden Erfahrungen. Denn hier steigerte sich die stechende, persönliche Angst zur Todesfurcht, herrschte das Gefühl, dass nun das alles durchdringende Gesetz und die Ordnung, die in allen Bereichen regierte, vollzogen werden würden. Es war, als würde man die endgültige Vollendung des Gesetzes erfahren. Eine Art fürchterlicher Gerechtigkeit, die das kleine Unrecht in den Mühlen des alles übersteigenden, irgendwo abgründig verankerten Unrechts zerreibt.
Viele Jahre später, hier in Jerusalem, als ich Kleists Geschichten las, schien es mir, als begriffe ich kognitiv, was ich damals intuitiv erfasst hatte. Ich verstand den großen fürchterlichen Impuls, umzukehren und zu resignieren, oder vielleicht die innere Bindung an das Zurückkehren und daran, sich mit der Ordnung und dem furchteinflößenden, abgründigen Gesetz abzufinden. In Michael Kohlhaas und Das Erdbeben in Chili war es die große Gesetzlichkeit, die zur Anwendung kommen musste, der gegenüber jede Auflehnung nichts als ein kleiner, verzweifelter, hoffnungsloser Aufschub war.
Auschwitz war als Geisterlager in jenem Herbst 1944, oder von Herbst 1944 bis Januar 1945, der Zeit der endgültigen Evakuierung, auf verblüffende Weise anders, als es vorher gewesen war. Nachdem die Vernichtungen aufgehört und die Krematorien ihren Betrieb eingestellt hatten, gab es keine langen Reihen mehr, keine schwarzen Kolonnen, die von den Verbrennungsöfen verschluckt wurden, die Bewegung der Züge kam zum Stillstand, es wurden keine Berge letzter Habseligkeiten mehr aufgehäuft, die die Deportierten mitgebracht hatten. Die Flammen verloschen. Nur ein Feuer flackerte weiter, verzehrte die, die eines »natürlichen Todes« starben.
Dennoch, es geschahen weiterhin Dinge. Am bedeutsamsten: Die Krematorien wurden demontiert und die Gebäude gesprengt. Das rief ein seltsames Gefühl hervor, stellte aber tatsächlich niemals die immer gegenwärtige Gewissheit des Großen Todes in Frage, des unabänderlichen Gesetzes des Großen Todes. Nicht jenes, das all jene verschluckt, die aus allen Teilen Europas kommen, sondern das, welches für die Zurückgebliebenen der Metropole gilt. Was sie betraf, ihr Schicksal war besiegelt – das war stets mein Gefühl.
Dann kam der Winter, in der Ferne konnten wir den Kanonendonner der näher rückenden Front hören, und es wurde der Befehl erteilt, das Birkenau-Lager, das im Herzen der Todesmaschinerie lag, zu verlassen und zum Lager Auschwitz I zu gehen, in dem vorwiegend politische Häftlinge inhaftiert waren. Von dort, in der Nacht des 18. Januar, begann die Reise durch die geöffneten Tore in
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