Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
hinter den Baracken aufgehäuft wurden und die wir Kinder umgingen, um die wir uns herumdrückten auf dem Weg in die Jugendbaracken des Sonderlagers der Theresienstädter Juden in Auschwitz. Die Wahrheit ist, dass ich mich nicht an eine gewaltvolle Szene aus diesem Lager erinnere, obgleich es Gewalt natürlich gab, wie aus den Zeichnungen von Dinah Gottlieb und aus vielen anderen Zeugenaussagen zweifellos hervorgeht, die mein Freund, der Dichter Gerschon Ben-David, von ehemaligen Häftlingen aufgenommen hat. Ich habe dergleichen aus der Erinnerung als Zeugnis um seiner selbst willen weder niedergeschrieben, noch auf Tonband aufgezeichnet. So jedenfalls scheint es mir im Augenblick.
Abb. 19
Dennoch – es gibt es eine hervorstechende Episode, die mir in jedem Detail scharf vor Augen steht: ein Akt öffentlicher Bestrafung. Ein Vorfall, in dem ein Häftling in Gegenwart der anderen Häftlinge bestraft wurde – sie wurden gezwungen zuzuschauen. Das war im Herbst 1944, im Männerlager, nach der Liquidierung des Familienlagers; im Lager, das das Zentrum von Birkenau war, das Hauptarbeitslager, das Lager der alteingesessenen und der neuen Häftlinge und auch von uns Jugendlichen. Diese Erinnerung bringt vielleicht noch anderes aus der Zeit empor, der Zeit nach den massiven Evakuierungen von Auschwitz, die damals durchgeführt wurden, von Herbst 1944 bis zum Winter, in gleichförmig gradliniger Bewegung, wie vom Trägheitsgesetz geleitet. Es hatte etwas von einer Geisteratmosphäre, und als solche blieb es in meiner Erinnerung hängen.
Es war morgens, früh morgens, neun Uhr vielleicht. Ein herbstlicher Tag, eine Art Dunst lag in der Luft, wie feiner Nebel. Die Nahsicht war gut, klar, aber die Landschaft der entfernten Berge und sogar die benachbarten Lager waren irgendwie verschwunden. An diesem nebligen Morgen wurde eine Razzia abgehalten, eine überraschende Kontrolle, um Häftlinge zu finden, die sich vor der Arbeit drückten. Nachdem alle Häftlinge zur Arbeit innerhalb oder außerhalb des Lagers gegangen waren, wurde jeder, der im Lager geblieben war, zum Appell beordert, wie es dort im Lager hieß, auf den großen Platz, der an einem Ende des Lagers, gegenüber der Rampe, den Eisenbahnschienen und den Krematorien lag. Die Häftlinge versammelten sich in Reihen hintereinander in einem großen Karree, in dessen Mitte ein mir unbekannter Häftling geführt wurde, der Häftlingskleidung trug. Man hatte ihn in den Latrinen gefunden, wo die Häftlinge sich manchmal versteckten. Die lagen in der Nähe. Er wurde von einigen SS -Männern gebracht und, wie ich erinnere, auch von einigen Kapos eskortiert, die an dieser Zeremonie öffentlicher Bestrafung teilnahmen.
Die Zeremonie begann mit einer Art Spiel, als wäre es ein Zeitvertreib, in dem die SS -Männer den Häftling mit ihren Spazierstöcken schlugen, obwohl ich nur den kahlen Kopf des Opfers wahrnahm, die Schläge, die auf seinen Schädel niederprasselten, die roten Flecken, die jeder Schlag hinterließ. Alles ging in vermeintlicher Stille vor sich, lautlos, in der dunstfeuchten Luft, aber zugleich war alles ganz klar und deutlich, jedes Detail war sichtbar. Der Häftling versucht in einer Art groteskem, bizarrem Tanz den Schlägen auszuweichen und sich die Stellen zu halten, wo sie landeten. Die Schläge prasselten von allen Seiten, und immer im Gefolge der Schläge die roten Flecken auf seinen Kopf. Als ob es ein Spiel wäre. Der Eindruck, der sich meiner Erinnerung einprägte – ohne jedes moralische Bewusstsein, dass es sich um einen Folterakt handelt –, blieb nur als Bild vor meinem geistigen Auge bestehen: das Spiel der Stöcke, gespielt von den SS -Männern in Grün, die Kapos in ihrem gebügelten Häftlingsgewand, der Gefangene, kahlgeschoren, in seiner schmutzigen Häftlingskluft, der geschlagen und gequält wurde. Von seiner ganzen Gestalt habe ich nur einen Teil in mich aufgenommen: die weiße Blässe des Schädels, auf dem die roten Flecken quollen, und das Blut, das sein Gesicht herabströmte.
Nach diesem Vorspiel wurde der Gefangene an eine spezielle Strafapparatur gebunden, ein Gestell zum Auspeitschen. Seine Beine wurden gefesselt und seine Arme waren nach vorne ausgestreckt und ebenfalls gefesselt. Ich denke, es waren die Kapos, die ihn an das Gestell banden, während die SS -Männer danebenstanden. Dann begann der zweite Teil der Zeremonie: das Auspeitschen. Jeder Schlag musste von dem Gefangenen selbst abgezählt werden, einer nach dem
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