Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
anderen. So erinnere ich diese Peitschenhiebe, einen nach dem anderen, und das Zählen, das andauerte, immer schwächer wurde, bis es schließlich verstummte. Danach, daran erinnere ich mich noch, wurde er von der Apparatur losgeschnitten, und alle gingen auseinander.
Was ich von dieser Szene behalten habe, ist letztlich das Gefühl einer sonderbaren »Gerechtigkeit«, die all dem innewohnt; ein Gefühl, dass es eine Art von Vollstreckung einer befremdlichen »Ordnung« war, die das Alltagsleben im Lager bestimmte. Opfer und Folterer, oder die Schlagenden und die Schläge, zu denen der Häftling verurteilt worden war, waren ein und dasselbe System, in dem es unmöglich war, das Opfer von den Strafenden zu unterscheiden, zu trennen.
Ich hätte mich wahrscheinlich gar nicht an diesen Vorfall erinnert, diese Szene hätte sich in ihrer ganzen Tragweite nicht in mein Gedächtnis eingeprägt, wäre sie nicht wieder aufgetaucht, als ich Kafkas Geschichte In der Strafkolonie las. Auch hier gab es das Gefühl einer sonderbaren »Gerechtigkeit«, die Einheit der Gegensätze, die Gerechtigkeit, die anscheinend ausschließlich für die Strafkolonie galt, die sonderbare Welt, in der der Reisende der Geschichte sich befindet; und ich sah mich selbst gleichsam aus dem Abseits zuschauen, beobachten, wie diese »geniale« Apparatur, die Erfindung des Kommandanten der Strafkolonie, präzisionsgenau das Strafmaß in das Fleisch des verurteilten Mannes einritzt, das er gemäß den Spielregeln verdiente. Ja, es war dasselbe Gefühl von Gerechtigkeit, Präzision und Absurdität, welches das in Kafkas Geschichte beschriebene Schauspiel charakterisiert und das als Schauspiel einer esoterischen Gerechtigkeit gesehen werden kann, vollzogen mit einer Strafmaschinerie in einem Strafsystem, das eine eigene autonome Einheit bildet. Als ob hier irgendein System sich entfaltete, das ohne jede Verbindung zu der seltsamen Landschaft existieren kann, auf die der Reisende trifft, und das auf die Landschaft des Lagers an jenem nebligen Morgen in Auschwitz verschoben werden kann; und von Auschwitz wiederum könnte es in jede nur denkbare Situation wandern, als wäre es ein autonomes System, völlig entfremdet von jeglichem Gefühl des Mitleids, der Abscheu oder Grausamkeit. Selbst die Unterscheidung zwischen Opfer und Täter scheint hier völlig zu verschwinden. Auf solche Weise behielt ich jene Szene in Erinnerung, jene Szene von Gewalt als Ritual, als Teil des Systems, nicht des Großen Todes oder der Spiele des kleinen Todes, sondern des alltäglichen Lebens. Die tägliche Routine des Systems, das zwischen dem Großen Tod und der Liquidierung des Lagers Auschwitz funktionierte – in der Zeit von »Auschwitz als Geisterstadt«. Aber auch Auschwitz, in dem der Schatten seiner »Glorie« herrschte. Es war, als ob dieser Aspekt der Geisterstadt noch weiterbestehe, wie die Strafkolonie in Kafkas Geschichte, bereits ihres Zweckes entkleidet, ihrer ursprünglichen Bedeutung zu der Zeit, als das System sich auf dem Höhepunkt befand, als die Strafkolonie im Zenit stand. Etwas, das von der Welt anscheinend längst verschwunden ist, aber weiterbesteht, und die Ordnung besteht, die Strafe besteht, und das Opfer ist von dieser Ordnung anscheinend bereitwillig vereinnahmt, und der Reisende staunt und bewahrt das Geschehen, wie er es sieht. So habe ich das Geschehen bewahrt.
Die Hinrichtung
Eine andere Szene der Gewalt und Grausamkeit, die aufsteigt, wenn ich meine Erinnerung abtaste, hat nicht mit Strafen, sondern mit Töten zu tun. Genauer gesagt, mit einer Hinrichtung. Einer Vollstreckung des Urteils. Auch dies als öffentliches Ereignis, dem alle Häftlinge beiwohnten. Dieses Mal in der Abenddämmerung, mit den Tausenden, die sich am anderen Ende des Lagers versammeln, an der Seite nahe dem Tor, in der Nähe der Lagerküchen, auf dem großen Platz an diesem abgelegenen Ende.
An beiden Enden des Lagers gab es große Plätze, und zwischen ihnen, auf beiden Seiten der Straße, die das Lager der Länge nach teilte, standen die Baracken in langen Reihen.
Abb. 20
Das Ereignis war die Hinrichtung von drei oder vier russischen Kriegsgefangenen, die versucht hatten zu fliehen. Dieser Fluchtversuch, wie so viele andere, war fehlgeschlagen. Sie wurden zurück ins Lager gebracht und zum Tode verurteilt in Anwesenheit der anderen Häftlinge. Das war, wie gesagt, nach der Arbeit, gegen Abend, aber noch bei Tageslicht. Es war im Sommer.
Was erinnere ich von dieser
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