Lanzarote
Gedichte hören, die der Autor mit trauriger Stimme vorträgt, begleitet von elegischen Synthesizer-Sounds ( www.multimania.com/hoeullebecq ).
Der Aufruhr um Houellebecq ist groß genug, dass der DuMont-Verlag es sich leisten kann, parallel zu Houellebecqs im Herbst erschienen „Elementarteilchen“ einen schmalen Essayband des 41-jährigen Franzosen herauszubringen, obwohl der Roman mit soziologischen und philosophischen Einschüben ohnehin gesättigt und sozusagen selbsterklärend ist.
Im Roman „Elementarteilchen“ versucht Houellebecq zu erklären, wie die Liebesunfähigkeit, Lüsternheit und Einsamkeit seiner Figuren mit der historischen Aufösung aller gesellschaftlichen Bindungen zusammenhängen, deren letzter Schub die sexuelle Befreiung um 1968 herum gewesen sei. Der Autor will durch historisches Räsonieren im Roman von vornherein die Möglichkeit ausschließen, seine Figuren als Einzelfälle zu verstehen; ihn interessiert der Durchschnitt: mittlere Lebensalter, mittlere Einkommenschichten, mittlere Wohnlagen. „Elementarteilchen“ ist der Versuch einer mit literarischen Fiktionen argumentierenden Soziologie. Seine Kernthese lautet: Einsamer, armseliger und unglücklicher waren wir nie, da wir niemals freier, reicher und lustiger waren. Sind wir zum dauernden sexuellen Erregungszustand, zur Untreue, zu Einsamkeit und Selbstverachtung verdammt, weil der Kapitalismus nacheinander die Stände, die Religion, die Ehe und den Schlaf der Triebe zerstört hat? Im debattenseligen Frankreich streitet man heftig darüber, ob Houellebecq Stalinist oder Faschist oder beides sei, ob er ein skandalisierender Schaumschläger oder skandalös ehrlich, ob er ein Karl Marx der Sexualität oder ein Ernst Jünger der Pornografe sei.
Die ausgewählten Interviews, Briefe und Zeitschriftenessays, die jetzt unter dem Titel „Die Welt als Supermarkt“ auf deutsch herausgekommen sind, lassen solche Fragen offen. Sicher ist nach der Lektüre nur: Houellebecq wäre am liebsten Katholik, wenn er nicht „von Grund auf a-religiös wäre“. Er ist sich „der Notwendigkeit einer religiösen Dimension schmerzlich bewusst“, sagt er in einem Gespräch mit Valère Staraselski, das Problem sei jedoch, „dass sich keine der heutigen Religionen mit dem allgemeinen Erkenntnisstand verträgt.“ Diese Wendung ist für Houellebecq charakteristisch, für seine Romane wie für seine Essays. Sie verrät jenseits aller ideologischen Fragen die eigentliche Crux seines Denkens: Statt mit einem eigenen Erkenntnisstand zu argumentieren, stellt er stets „den allgemeinen“ in den Raum. Es wäre für uns alle besser an Gott zu glauben, sagt er, allein, der Wille ist schwach, der Geist ist stärker.
Houellebecq begreift sich ebenso wie seine Figuren als absolute Verkörperung des Gewöhnlichen. Seine Originalität besteht darin, nicht originell sein zu wollen; auf rabiate Weise stilisiert er sich zum Durchschnittsbürger. Der Zeitgeist ist für Houellebecq kein äußerliches Phänomen, sondern eine totale innere Entfremdung. Er macht den Menschen zu seinem Untertan, auf die gleiche Weise, wie in den „Elementarteilchen“ die Libido für den ständig, sogar in der Öffentlichkeit onanierenden Bruno zum Fluch wird. Der Zeitgeist ist in Houellebecqs Denken an Gottes Stelle getreten; er denkt in ihm und zwischen uns, und wir sind seine Ausführungsorgane; darin ist Houellebecq ein Kind des französischen Strukturalismus und seiner Entmachtung des freien Subjekts. Das eigentümlich deutsche Wort „Zeitgeist“ taucht in Houellebecqs kurzen und fatterhaften Auslassungen zum zeitgenössischen Denken nicht auf, aber „die Welt als Supermarkt“, die der Sammlung treffenderweise den Titel gab, meint genau das: Die Ökonomie, „der allgemeine Erkenntnisstand“, die Sozialpsyche, die Ästhetik und die Sexualität sind darin als unentrinnbare Bewusstseinsmacht zusammengefasst. Sie hält uns alle im Griff, den Autor eingeschlossen: Houellebecq ist ein Libertin, hasst aber die Libertinage.
Der Supermarkt ist überall; in dem Essay „Ansätze für wirre Zeiten“ wird der Supermarkt zur Welterklärungsformel. In Anlehnung an Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung empfndet Houellebecq die „Welt als Supermarkt und Hohn“, als Bazar und Werbung. Mit der Aufösung der Familie sei die letzte Rückzugsmöglichkeiten gefallen, die den Menschen vom Warenmarkt trenne: Befreit von „allen Einengungen, wie sie Zugehörigkeitsgefühl, Treue oder ein
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