Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland
Betreibern unterschied. In Talkshows und öffentlichen Veranstaltungen schlug der Bordellchefin mehr Sympathie als verletztes Moralempfinden entgegen. Das warf aber auch die Frage auf, ob die Anbahnungsgespräche im Cafe Pssst!
überhaupt noch gegen die guten Sitten verstießen, die das Reichsgericht anno 1901 als das »Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden« definiert hatte.
Anstatt sich an Urteilen zu ähnlich gelagerten Fällen zu orientieren, machte das Gericht genau diese Frage zu einem Kernstück seiner Urteilsfindung. Wie dachte die deutsche Bevölkerung im ausklingenden 20. Jahrhundert über sexuelle Tauschgeschäfte? Um das herauszufinden, holte der Vorsitzende Richter Percy MacLean Statements von fünfzig gesellschaftlich relevanten Gruppen und Einzelpersonen ein, darunter Wissenschaftler und Kirchenvertreter, Verbände und Gewerkschaften. Das Ergebnis sprach für sich: Die Mehrheit der Befragten beurteilte eine in freier Verantwortung ausgeübte Prostitution ohne Begleitkriminalität als nicht sittenwidrig und erkannte freiwillig erbrachte sexuelle Dienstleistungen, sofern sie nicht mit Strafrecht oder Jugendschutz kollidieren, nüchtern als gesellschaftliche Realität an.7 Und so befreite das Berliner Verwaltungsgericht mit gesellschaftlichem Rückenwind im Dezember 2000 erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte die Prostitution vom Makel der Sittenwidrigkeit. »Die Antworten«, heißt es in der Urteilsbegründung, »belegen in eindrucksvoller Weise, daß die in sexuellen Fragen bevormundend enge und von Doppelmoral geprägte Sichtweise der 50er und 60er Jahre, als sogar noch männliche Homosexualität, Ehebruch und das Übernachtenlassen eines Verlobten bei der eigenen Tochter strafbar waren und Beamte, die ihre Frau betrogen, mit Entlassung aus dem Dienst zu rechnen hatten, endgültig der Vergangenheit angehört und sich das gesellschaftliche Bewußtsein in der Bundesrepublik Deutschland gewandelt hat in Richtung Pragmatismus und Ehrlichkeit sowie Toleranz, Respekt und Fürsorge.«
Wenn am 1. Dezember 2000, dem Tag der Urteilsverkündung, nicht nur im Cafe Pssst! die Sektkorken knallten, dann deshalb, weil das kleine Bordell einen Erfolg errungen hatte, der weit über die Wilmersdorfer Bezirksgrenzen hinauswirkte. Das spektakuläre Urteil wies den Weg für das »Gesetz zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten«. Seit Januar 2002 ist die Prostitution nicht länger sittenwidrig. Wie alle anderen Arbeitnehmer haben auch Prostituierte Anspruch auf Kranken-, Renten-, Arbeitslosenversicherung und Umschulungen. Es ist nicht mehr strafbar, Sexarbeiterinnen zu vermitteln oder ihnen angenehme Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Prostituierte können ihre Honorare einklagen und brauchen keine Kündigungsfristen einzuhalten. Niemand kann Ansprüche wegen angeblicher Schlechtleistung gegen sie geltend machen. Menschenhandel, Zwangsprostitution, Zuhä lterei im engeren Sinne und die Zuführung Jugendlicher zur Prostitution bleiben weiterhin strafbar. Zwei bis drei Jahrzehnte nachdem die ersten Sexarbeiterinnen die Definitionsmacht darüber, was Prostitution bedeutet, wofür sie steht und wie sie organisiert ist, nicht länger der kriminellen Unterwelt überließen, schreibt das Gesetz ihre Bemühungen fest. Es nötigt dem Milieu mehr Transparenz ab und schafft den gesetzgeberischen Rahmen, um die Rotlichtprostitution weiter aus dem Bannkreis der organisierten Kriminalität herauszulösen. Das Gesetz macht Schluß mit Scheinheiligkeit und Doppelmoral. Zumindest theoretisch.
Klischee Nr. 4:
Prostitution? Alles kein Problem mehr!
Und praktisch? Ist die Prostitution plötzlich ein Job wie jeder andere, weil sie inzwischen Rechtsgleichheit genießt? Läuft sie deshalb weniger prekär ab? Haben ein paar neue Paragraphen die Realitäten im Sexgewerbe so nachhaltig verändert, daß sie uns zur Revision unserer Meinungen oder Wertvorstellungen zwingen, wenn wir nicht als prüde Moralapostel dastehen wollen? Eine einigermaßen integre Antwort muß lauten: Jein. Wenn die neuen Paragraphen und gesellschaftlichen Debatten im Vorfeld überhaupt etwas zur Bewußtseinsbildung beigetragen haben, dann wohl erstens die Erkenntnis, daß es die Prostitution nicht gibt, und zweitens die Notwendigkeit, daß wir in puncto Prostitution differenzierter denken lernen.
Doch genau das fällt selbst Experten mitunter schwer. Während einer Podiumsdiskussion auf einem
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